Das ist das Wesen der ‹Natur›, dass Gesetz und Tätigkeit auseinanderfallen, diese von jenem beherrscht erscheint; das hingegen ist das Wesen der ‹Freiheit›, dass beide zusammenfallen, dass sich das Wirkende in der Wirkung unmittelbar darlebt und dass das Bewirkte sich selbst regelt. Die Geisteswissenschaften sind im eminenten Sinne daher Freiheitswissenschaften. Die Idee der Freiheit muss ihr Mittelpunkt, die sie beherrschende Idee sein.
Rudolf Steiner Aus: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, GA 2, Dornach.
Mit einer anthroposophischen Geisteswissenschaft, die als Freiheitswissenschaft verstanden wird, bekommt die Freiheit einen objektiven Charakter und definiert schlechthin das Menschenwesen. Freiheit ist nicht mehr etwas, was nur gelegentlich berücksichtigt werden sollte und was in Krisenzeiten vergessen werden dürfte: Sie wird zum unumgänglichen Mittelpunkt jeder menschenwürdigen Entwicklung und Gesundung.
Kommentar von Louis Defèche
Zeichnung von Philipp Tok
In unangemessener, aber leider unvermeidbarer Kürze ein paar aphoristische Anmerkungen zu „Freiheit ist nicht mehr etwas, was nur gelegentlich berücksichtigt werden sollte und was in Krisenzeiten vergessen werden dürfte: Sie wird zum unumgänglichen Mittelpunkt jeder menschenwürdigen Entwicklung und Gesundung“:
1. Individuelle geistige Freiheit im Sinne von Rudolf Steiner oder, allgemeiner, des deutschen Idealismus ist etwas anderes als das Konzept der politischen Freiheit, die regelmäßig durch die Rechte der anderen begrenzt wird. Schlussfolgerungen aus der einen Sphäre gelten nicht für die andere. Das nennt man „aus dem Zusammenhang reißen“.
2. Wenn Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit ist, dann könnte man ja auch die Notwendigkeit der kontaktbeschränkenden Maßnahmen einsehen, wenn man wollte. Damit wären dann Wirkender und Wirkung wieder identisch.
3. Auch eine Freiheitswissenschaft hat zur Kenntnis zu nehmen, dass es eine leibliche Grundlage für die individuelle Freiheitsfähigkeit des Menschen gibt, die eines individuellen, aber manchmal eben auch eines sozialen Schutzes bedarf.