Eine Sprache, wie ich sie nicht kannte

Von 1970 bis 1995, so lange führte Wilfried Hammacher die Novalis-Bühne in Stuttgart. Im Stuttgarter Ostend hatte er ein Fabrikgebäude als Theater angemietet, um nach den Inszenierungen und Tourneen mit den Mysteriendramen, ‹Faust›, ‹Iphigenie› und anderen jetzt einen festen Ort zu bespielen. 1978 kam Torsten Blanke als Student an Hammachers Bühne und Schauspielschule und bekam schon bald die ersten Rollen. Mit ihm sprach Wolfgang Held über seinen Lehrer und späteren Schauspielleiter und Kollegen Wilfried Hammacher. 


Wie bist du Wilfried Hammacher begegnet?

Torsten Blanke Es gibt meines Wissens drei Phasen der Novalis-Bühne in Stuttgart. Nach seiner erfolgreichen Shakespeare-Inszenierung am Goetheanum fühlte sich Wilfried Hammacher in Dornach nicht mehr gewollt und baute in Stuttgart die Novalis-Bühne auch für die Mysteriendramen und den ‹Faust› auf. Zeitweise waren es über 20 Schauspielende, Eurythmistinnen und Eurythmisten, die Teil des Ensembles waren. Damit war er der Erste, der mit den Mysteriendramen außerhalb von Dornach auf Tournee ging. In dieser Zeit begegnete ich Hammacher erstmals. Ich war 15 Jahre alt und Schüler in Schloss Hamborn, sah eine Aufführung der Novalis-Bühne und wusste, dass ich Schauspieler werden wollte, und zwar an seiner Schule. Immer wieder in meiner Biografie tauchte Wilfried Hammacher wie ein Leuchtturm auf. Das war auch so, als ich meine 12.-Klasse-Jahresarbeit über Shakespeare machen wollte. Hammacher gab damals in seiner Villa in Stuttgart in den Herbstferien einen Shakespeare-Kurs. Er erzählte und spielte die Stücke und ich lernte ihn so kennen. Beeindruckt hatte mich sein enormes Theaterwissen – eine unerschöpfliche Quelle von Sachkenntnis. Bei aller Konzentration auf Rudolf Steiner und die Mysteriendramen und ‹Faust›: Er war nie eng. Für die Jahresarbeit habe ich dann ein anderes Thema gewählt, weil mich die Komplexität und Fülle doch etwas demütig machte. 

Wie ging es an die Schauspielschule?

Nach meiner Landwirtschaftslehre und einigen Wanderjahren bewarb ich mich dann an seiner Schule. Während die Villa der Hammachers in dem klassizistischen Stil auf dem Killesberg ein bisschen an Sanssouci erinnerte, mit großem Garten und Pferden, war die Novalis-Bühne in Ostend ein Industriebau einer ehemaligen Spinnerei. Unten im Bau war die Marionettenbühne von Frau Schöneborn und darüber das Theater mit 180 Plätzen. Die Fenster waren schwarz bemalt, sodass man sie im Sommer zum Lüften öffnen musste und wenn innen ‹Faust› lief, hörte man jeden, der draußen sein Auto startete. Das waren zwei polare Welten, getrennt durch den Talkessel von Stuttgart! Mit nur zwei weiteren Studierenden begann ich meine Ausbildung. Der Schwerpunkt lag in der Erarbeitung von Epik und Lyrik, in Steiners Übungen und den Stücken, in denen wir mitspielen konnten. Was zu kurz kam, war unter anderem die Improvisation.

Wie war Wilfried Hammacher als Dozent?

Ich hatte kaum Unterricht bei ihm, erinnere mich allerdings gut an eine Stunde. Ich fragte ihn, wie ich einen Text üben könne. Da hat er ihn mir vorgesprochen. Das hat mich so beeindruckt! Das ist nicht mehr Sprache, wie ich sie nicht kenne, das ist magisch, fühlte ich! Ich bekam dann schnell verschiedene Rollen und stand also mit ihm auf der Bühne. Er konnte virtuos sein, vor allem, wenn er kleine Rollen, Nebenrollen übernahm. So spielten sie damals zu dritt ‹Peer Gynt›: Oswald Geyer spielte Peer Gynt, Hammacher spielte alle Männerrollen drumherum und Sieglinde Kurras alle Frauenrollen. Das war eine brillante Aufführung! Vom großen Krummen bis zum dummen Bräutigam gab er den Figuren jeweils einen eigenen Charakter. Die fünf Herren auf dem Schiff spielte er mit Marionetten. Man spürte sein Schauspielerblut. Sein Vater hatte in Leipzig die spätere Ernst-Busch-Schule geleitet.

Wilfried Hammacher in ‹Nathan der Weise› von Lessing an der Novalis-Bühne, z.V. g.

Wie entwickelte sich die Novalis-Bühne?

Ich kam an die Bühne, als Hammacher einen Neugriff unternahm, auch aus biografischen Gründen. Er wollte mit Theaterleuten zusammenarbeiten, die nicht unbedingt Sprachgestalter sein mussten, sondern er wollte damals mit Künstlern sein, die natürlich möglichst der Anthroposophie nahestanden. So kamen beispielsweise Max Rossmar und Osswald Geyer an die Novalis-Bühne. Gerade Oswald sprühte vor Atmosphäre, solch eine Energie! Günther Arnulf war damals ein eindrücklicher Charakterdarsteller. Werner Eng, auch Schüler von Hammacher, ist heute im Ensemble der Schaubühne in Berlin, verschiedene Regisseure inszenierten. Hammacher ließ sich von diesen Künstlern inspirieren. Er suchte die Begegnung auf Augenhöhe. Er war damals etwa 60 Jahre alt. Wenn man mit ihm im Auto fuhr, dann war es gut, sich anzuschnallen. Immer Temperament und Lebensfreude und Treue! Denn am Anfang kamen in die Aufführungen vielleicht 20, 30 oder 40 Zuschauer. Dann füllte sich dieses Theater von Jahr zu Jahr! Der Strom, den er angelegt hatte, der floss! Wir spielten jeden Tag außer montags, und am Wochenende manchmal zwei Vorstellungen, nachmittags und abends. Außerdem hatte Hammacher zu den Jahreszeiten passende Märchen inszeniert als Kinderprogramm: im Herbst ‹Hänsel und Gretel›, an Ostern ‹Aschenputtel› und im Sommer ‹Dornröschen›. Als wir mit den Märchen begannen, da waren wir doch unsicher: «Ist das nicht etwas kitschig?» Dann wurden die so von Hammacher dramatisierten Märchen Jahr für Jahr aufgeführt. Bis auf den letzten Platz war das Theater ausgebucht. Wir dachten, die Märchen müssten doch irgendwann abgespielt sein, aber das Gegenteil geschah, die Familien kamen immer wieder! Mein Schicksal war, dass ich mit Katja Axe als Paar immerfort den Prinzen in den Märchen zu spielen hatte. Als Frau Schöneborn mit ihrer Marionettenbühne im unteren Geschoß auszog, nahmen wir diesen Saal mit 80 Plätzen auch noch in Beschlag. Dort gab es dann kleine Inszenierungen, wie ‹Biedermann und die Brandstifter› oder von Tolstoi ‹Wovon die Menschen leben›.

Trotz des Erfolges war das Theater ein Zuschussbetrieb – oder?

Ja. Etwa eine Million Euro war das jährliche Defizit. Das ging sechs Jahre und dann sagte uns Hammacher im Winter, dass er im Sommer die Bühne schließen und noch einmal eine Schule gründen wolle. Das Geld, das seine Frau in eine Stiftung gegeben hatte, die das Theater finanzierte, gehe zur Neige. Auch an Drittmitteln sei nichts zu erwarten. Wir ca. 20 Bühnenmitarbeitende saßen in einem Kreis, hörten das und waren empört. Das Theater war täglich so gut wie voll, unser Publikum war begeistert und wir sollten aufhören? Er und seine Frau, jeweils 70 Jahre alt, wollten mit einer neuen Schauspielschule anfangen. Wir haben so deutlich protestiert, dass Wilfried Hammacher seinen Entschluss zurückgenommen hat. So gab es noch ein zusätzliches Jahr, aber dann war es zu Ende. Ich habe dann den Förderverein der Novalis-Bühne weitergeführt unter dem Namen ‹Das Zelt›, um noch weitere Produktionen zu starten. So kam es noch zu einigen Produktionen für Kinder im Stuttgarter Nicolaus-Cusanus-Haus. So haben wir die Tradition der Märcheninszenierungen fortgesetzt. Cornelia Elter und Christian Schlösser haben mit ihrer Schauspielschule die Räume der Novalis-Bühne dann übernommen. Es war eine Blütezeit. Aus Hammachers Sicht erfüllte ihn vermutlich am meisten, eigene Stücke zu schreiben, die er als Mysteriendramen unserer Zeit verstand. Ein Stück befasste sich mit Strindberg, ein anderes mit Darwin vor dem Hintergrund von Rudolf Steiners karmischen Ausführungen.

Dieses Ende hat ihn geschmerzt?

Ich denke schon. Aber biografisch war es vielleicht an der Zeit, diese Dauerbelastung zu beenden, denn Hammacher hat gespielt, hat Regie geführt, Stücke geschrieben, den Spielplan entwickelt. Jetzt konnte er endlich seine Bücher schreiben, er konnte am Goetheanum den ‹Faust› inszenieren.

Immer Temperament und Lebensfreude und Treue! Denn am Anfang kamen in die Aufführungen vielleicht 20, 30 oder 40 Zuschauer. Dann füllte sich dieses Theater von Jahr zu Jahr!

Was war er – Künstler, Pionier, Rebell, Mäzen, Vater?

Ich arbeitete über Jahre hinweg täglich oft viele Stunden an seiner Seite. Da kam mir manchmal das Bild eines Offiziers. Wenn wir uns nach einer Aufführung abschminkten und dann nach Hause gingen, dann konzipierte Hammacher am Spielplan, dann schrieb er noch an einem neuen Stück, das dann fünf Stunden dauern konnte. 

Was übrigens bei dem ‹Peer Gynt› so verfing, war, dass er da gewissermaßen in einen Tiefstatus ging und die dienenden Rollen spielte. Das tat dem Künstler in ihm sehr gut. Kleinere Figuren zu charakterisieren, ohne sie zu karikieren und ohne zu überzeichnen. Wenn Hammacher spielte, führte meist Max Rossmer Regie und er durfte Hammacher alles sagen. Auf sein Auge verließ sich Hammacher. Wenn er Faust oder Nathan spielte, dann griff er zum großen Ton, was uns jüngeren Spielern nicht so gefiel. Es gab dann natürlich Zuschauer und Zuschauerinnen, die uns baten, auch so zu sprechen wie er.

Wie schaust du auf diese Zeit zurück?

Sie lässt sich nicht wiederholen. Es war diese einmalige Synthese aus finanziellem Vermögen seiner Frau Silvia, seiner künstlerischen Mission und einem bestimmten geistigen Milieu dieser Zeit. Aber es gab auch immer wieder Brüche, vor allem, wenn ehemalige Schüler von ihm in die künstlerische Selbständigkeit gehen wollten. Heinz Friedrich, der später am Bodensee die Mysteriendramen inszenierte, drängte es in dieser Weise in die Souveränität. Dann kam die Generation um Bodo Bühling und auch hier fragten die Jungen nach Augenhöhe und dann ging es nicht weiter. Dann kam unsere Generation und da lenkte Hammacher dann ein, sodass wir ein weiteres Jahr spielen konnten. Ich glaube, es ist doch besonders auch Wilfried Hammacher zu verdanken, dass die Anthroposophie Theater in ihrer Mitte hatte.

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