Anthroposophie als Strom

In unserer neuen Reihe zur Methode der Anthroposophie bitten wir Menschen, uns ihr individuelles Verständnis der anthroposophischen Methode(n) zu beschreiben. Aus konkreten Lebensfeldern oder aus philosophischen Themenkreisen versuchen sie zu greifen, woraus sich Anthroposophie speist. Ein Bogen aus Blicken, Schichtungen des Geistes, laden Sie, liebe Lesende, ein, sich mit uns in eine Werkstattsituation zu begeben. Zum Auftakt sprach Gilda Bartel mit Louis Defèche über die Entstehung des Begriffs der Anthroposophie.


Wie bist du dazu gekommen, dich mit dem Begriff Anthroposophie auseinanderzusetzen?

Seit 20 Jahren beschäftigt mich die Frage der Öffentlichkeit der Anthroposophie sehr. Ich habe mich mit der Argumentation der Kritiker auseinandergesetzt: Es wird behauptet, dass nur Steiner – als selbst ernannter ‹Hellseher› – zu gewissen Ideen gekommen sei, die er dann als ‹Anthroposophie› bezeichnet habe. Hier wird Anthroposophie mit dem Werk Steiners identifiziert und Anthroposophen und Anthroposophinnen werden als blinde ‹Anhänger› beschrieben. Das stimmt natürlich nicht. Viele haben eigene Anschauungen entwickelt und innere Forschung geleistet. Es gibt sogar jene, die mit Steiner in gewissen Details nicht übereinstimmen. Anthroposophie erfordert auch einen kritischen Blick, eine individuelle Überprüfung und Anthroposophierende leisten in der Regel diese individuelle Erkenntnisarbeit in vielfältiger Weise. Da muss man gestehen, dass dies in anthroposophischen Kreisen manchmal unterschätzt oder übersehen wird, was zu dogmatischen Haltungen führen kann. Die vielfältige Erkenntnisarbeit der Anthroposophen und Anthroposophinnen bildet das Leben der Anthroposophie bis heute. Deshalb ist es mir wichtig geworden, unterscheiden zu lernen: Was ist in der Idee der Anthroposophie das Wesentliche? Was hängt mit der Personalität und dem Schicksal der Forschenden zusammen? Was ist geschichtlich bestimmt? Selbst wenn die Ausdrucksform der Anthroposophie, wie sie bei Steiner auftritt, ganz bedeutsam ist, kann sie nicht als die einzige betrachtet werden. Es ist wichtig, eine gewisse innere, gesunde Distanz zu pflegen – auch wenn man dort mächtige Impulse für die innere Arbeit findet –, damit individuelle, originelle und zeitgemäße Ausdrucksformen der Anthroposophie anerkannt werden können.

Das Wort Anthroposophie ist viel früher in der Geschichte aufgetaucht und der Begriff wurde lange vor Steiner ausgearbeitet.

Auf der anderen Seite habe ich an der Wikipedia-Seite ‹Anthroposophie› auf Französisch gearbeitet. Ich musste feststellen, dass dort die Darstellung der Anthroposophie mit dem Leben von Steiner verschmolzen war. Die geschichtlichen Ursprünge der Anthroposophie sind quasi ausgeblendet. Denn das Wort Anthroposophie ist viel früher in der Geschichte aufgetaucht und der Begriff wurde lange vor Steiner ausgearbeitet. Steiner hat selbst darauf hingewiesen: Es ist keine spontane Erfindung von ihm. Wenn man diese Vorgeschichte studiert, kann man das Wesen der Anthroposophie viel besser verstehen, vor allem ihre Verankerung in der Philosophie der Neuzeit und ihre geschichtliche Berechtigung.

Wann taucht der Begriff Anthroposophie zum ersten Mal in der Geschichte auf?

Das Rudolf-Steiner-Archiv publizierte vor einigen Jahren ein für mich außerordentlich interessantes Heft1, worin dem Wort Anthroposophie in seiner Entstehungsgeschichte nachgegangen wird. Das Wort taucht bereits in der Renaissance in dem Buch Arbatel, einem kleinen Zauberbuch über weiße Magie, auf.2 Wenn man das Buch öffnet, fühlt man sich sofort in die Welt von Faust, in sein Studierzimmer versetzt – es lohnt sich, reinzulesen. Später erscheint das Wort immer wieder im Kontext der christlichen Theosophie, wie sie im deutschsprachigen Raum besonders gelebt hat, oft mit gewissen Verbindungen zum rosenkreuzerischen Impuls. Dass der Begriff ‹Anthropos› mit dem Begriff ‹Sophia› gerade in der Renaissance zusammengebracht wird, ist vielsagend. Es ist eine Individualisierung des Verhältnisses zu Weisheit. So sehen wir, wie Anthroposophie im Schoß christlicher Theosophie entsteht, die dann – es ist bekannt – einen gemeinsamen und wichtigen Kulturhintergrund für die Denker und Künstler der deutschen Naturphilosophie und des Idealismus in der Goethezeit bildete. In dieser Zeit erscheint dann der Begriff ‹Anthroposophie› im Rahmen der Philosophie.

Wie erscheint er im philosophischen Kontext?

Michaël Foessel, ein zeitgenössischer französischer Philosoph, hat ein für mich außerordentlich aufklärendes kleines Buch geschrieben.3 Er beschreibt die Entstehung der modernen Philosophie der Freiheit – nicht das gleichnamige Buch von Rudolf Steiner, sondern den geschichtlichen Gedankenstrom. Er zeigt, wie Rousseau den Begriff der Freiheit mit dem Wesen des Menschen identifiziert hat. Diese neue Anschauung hat Kant zutiefst beeindruckt. Kant hat Rousseau als «Newton der sittlichen Welt» bezeichnet, weil mit ihm der Begriff von Gott mit dem Begriff von Freiheit ersetzt wird. So, schreibt Foessel, entsteht das Werk von Kant als eine Philosophie der Freiheit, in der die französischen ‹Lumières› in die deutsche ‹Aufklärung› weitergeführt werden. Hegel führt diese Philosophie der Freiheit zu einem Höhepunkt, die Freiheit erscheint als welt- und geschichtsgestaltend. Geist und Freiheit sind bei ihm ein und dieselbe Sache. Wir sind jetzt mitten im deutschen Idealismus. Das Wort Anthroposophie erscheint bei Schelling, im Rahmen der Debatten zwischen deutschen Idealisten und Romantikern. Wie kann Freiheit in einer physischen Naturwelt, die den mechanischen Gesetzen der Kausalität unterliegt, überhaupt gedacht werden? Der Mensch ist per se der Ort, wo diese Freiheit im Physischen lebt. Geist und Materie, Freiheit und Notwendigkeit, das Menschenwesen verbindet in sich diese zwei Aspekte, deshalb verlangt es eine Anthroposophie, die zugleich Selbsterkenntnis und Naturerkenntnis ist. Dieses wird dann bei dem Schweizer Arzt Ignaz Paul Vital Troxler in beeindruckender Weise zusammengefasst. Er war ein begeisterter Verkünder der Anthroposophie: «Die Anthroposophie hat den Charakter eines schöpferischen, belebenden und beseelenden Prinzipes», schreibt er.4 Es lohnt sich sehr, seine Werke zu studieren. Die Idee einer Anthroposophie klingt bei mehreren Philosophen im 19. Jahrhundert nach, bis zu Robert Zimmermann5, der Lehrer von Rudolf Steiner in Wien war. Diese Ausarbeitung des Begriffes von Anthroposophie seit der Renaissance ist, meine ich, nicht willkürlich, sondern beschreibt ihre Geburt.

Wenn Anthroposophie derart mit dem Freiheitsbegriff zusammenhängt, hat jeder seine individuelle Anthroposophie?

Ja. Und dennoch handelt es sich um eine Anthroposophie. Da ist das Spannungsfeld. Weil sie nicht mit einem abstrakten Begriff des Geistes arbeitet, sondern die reale Betätigung des Geistes im Menschen voraussetzt und betrachtet, ist sie mit dem lokalisierten Schicksal des Einzelnen unabdingbar verbunden. Im Herzen der Anthroposophie steht die freie menschliche Individualität in ihren konkreten Ausdrucksformen – die ja nur originell sein können.

Was ist der besondere Beitrag von Steiner für diese Entwicklung des Begriffes?

Buchcover des ‹Arbatel De Magia Veterum›, ein Zauberbuch für weisse Magie aus dem Jahr 1686.

Ich würde sagen, Steiner inkarnierte die Anthroposophie. Er besaß die Kräfte dafür. Interessanterweise wies Marie Steiner 1947 in einem Vorwort auf seinen «eiserne[n] und doch gelockerte[n] physische[n] Organismus» hin.6 Es ist auch deutlich, dass er über außerordentliche geistige Fähigkeiten verfügte. Er wurde in Wien und in Weimar, wo all diese Strömungen wie konzentriert waren, ausgebildet. Er fasste diese verschiedenen Aspekte großartig zusammen und prägte dann die theosophische Ideenwelt mit einer ausgereiften und tiefgreifenden Philosophie der Freiheit. Er formulierte alles neu, aber alles knüpfte an den vorher erwähnten Strömungen an. Und Steiner war kein Bourgeois, er kam aus der Welt der Arbeiter und der Technik. Anthroposophie inkarnierte sich wirklich durch ihn, wird für jedermann zugänglich, nicht nur für geheime Kreise, nicht nur für gebildete Menschen. Er praktizierte sie intensiv und machte, in Zusammenarbeit mit vielen Menschen, eine Bewegung daraus, mit konkreten Orten, Gebäuden, Projekten. Das war auch eine hervorragende soziale Leistung. Eine Hochschule wurde gegründet. Man sieht bei Steiner eine mächtige Gestaltungsgeste. Für mich erscheint er wie ein Riese, der die Welt gestaltet und für diese ‹Anthroposophie› einen konkreten Leib, ein Gefäß schmiedet.

Worin besteht der Gewinn, wenn man auf die Methode der Anthroposophie schaut anstatt auf Rudolf Steiners Forschungsergebnisse?

Ich finde, es ist ein wichtiges Arbeitsfeld, Anthroposophie immer wieder individuell zu definieren und zu formulieren. Es ist zwar nicht leicht, aber es ist ein bisschen zu einfach, Steiner zu zitieren, wenn man Anthroposophie definieren will. Kann man sie mit eigenen Worten, Gedanken, Erlebnissen und eigenen Referenzen darstellen? Mir scheint, Anthroposophie erwartet, immer neu formuliert zu werden – sie speist sich aus individueller Erkenntnisarbeit. Es wird zwar schon gemacht, aber es kann noch viel verstärkt werden im Hinblick auf die Zukunft. Damit Anthroposophie nicht zu einem Glauben wird, was sie eigentlich vom Wesen her nicht ist, braucht es eine Arbeit über die Methodik. Anthroposophie lässt sich nicht durch Inhalte kennzeichnen, sondern eher durch einen Gestus, eine geistige Tätigkeit, und darüber hinaus durch besondere Menschen, die diese Tätigkeit jeweils einzigartig vollziehen. Deshalb ist es so interessant, wenn verschiedene Menschen ihre Methode und Entdeckung formulieren. Diese menschliche Vielfalt ist die erste Substanz, der erste Reichtum, und regt die eigene Entwicklung an. Individuelle Erkenntnisarbeit bildet die Grundlage für Freiheit, und gerade in der heutigen Welt, in den aktuellen Krisen ist es wirklich vonnöten.

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Footnotes

  1. Anthroposophie. Quellentexte zur Wortgeschichte. Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe Nr. 121. Dornach, Herbst 1999.
  2. Arbatel De Magia Veterum. Basel 1575.
  3. Michaël Foessel, L’avenir de la liberté. De Rousseau à Hegel. Presses Universitaires de France, 2017.
  4. Ignaz Paul Vital Troxler, Gewissheit des Geistes. Fragmente. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1958.
  5. Robert Zimmermann, Anthroposophie im Umriss: Entwurf eines Systems idealer Weltansicht auf realistischer Grundlage. Braumüller, Wien 1882.
  6. Marie Steiner, Vorwort in: Rudolf Steiner, Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit. GA 130.

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