Fern des Denkens steht die Meinung und winkt

Immer öfter begegne ich dank dieser Krise unerwartet Menschen. Helles und Dunkles treten spontaner hervor in einem Auf und Ab der Seelenwogen. Nichts hat mich dabei so sehr irritiert wie die Behauptung, ‹von anthroposophischer Seite› sei alles klar. Was genau damit klar wäre, außer dem Wunsch, dass mit so einer Phrase etwas klargemacht werden könnte, wurde mir nie klar. Ein Kommentar.


Jetzt jemanden zu treffen, den ich länger nicht gesehen habe, bedeutet immer auch gleich, dass es zum Abtasten kommt. Wo steht der andere, welche Meinung hat er zu Covid oder den Maßnahmen dagegen eingenommen? Kann ich ihm die Hand geben oder wäre das ein Affront? Diese neuen Tests der Verbundenheit oder Zugehörigkeiten – bist du für oder gegen meine Meinung – sind für mich viel sprechender als die äußeren Maßnahmen. Sie beschreiben ein Problem, das keineswegs wegen ‹Corona› existiert, sondern nur dadurch kristallisiert wird. Vielleicht aus einer Angst vor der eigenen Fragilität und vor der eigenen Courage scheuen wir uns, in die Auseinandersetzung zu gehen, und das ist nicht kämpferisch gemeint. Es wird behauptet, dass die Gesellschaft durch die Maßnahmen oder die Politik gespalten werde, aber ich würde behaupten, das ist nicht wahr. Niemand sitzt hinter den Kulissen und spaltet eine abstrakte ‹Gesellschaft›; diese Gesellschaft übernimmt ihr Spalten selbst, indem sie sich in Diskursverweigerung übt. Das ist kein neues Corona-gebundenes Symptom. Die Vernichtung von Öffentlichkeit ist ein altes Phänomen, das jetzt aber zu Buche schlägt. Öffentlichkeit meint, einen Raum des Austauschs zu haben, des produktiven Streitens auf dem Weg zu gemeinsamen Handlungen. Dafür muss man innerlich streitfähig sein können und im eigenen Selbstgespräch sich nicht bestätigend, sondern forschend verhalten. Das braucht Selbstbewusstsein, keine Meinungen.

Der Tumult oder die Lethargie in der Seele, die wir erleben können, entstehen nicht, weil wir an der Beschränkung äußerer Freiheit generell oder überwiegend leiden würden. Sie entstehen, weil uns der Sinn nicht klar ist. Wir merken auf einmal, dass wir in einer Welt leben, die gewissermaßen uns lebt, die wir aus uns selbst heraus nicht mit Sinn anfüllen können. Eigentlich bedeutet das vor allem, dass wir merken, dass wir Corona (und noch vieles andere) noch nicht denken können.

Daraus entstehen Schmerz und Verzweiflung. Jeder versteht, dass man sich zusammenzieht und weitere Auseinandersetzung mit einem Thema oder einem Menschen abwehrt, wenn man sich verloren fühlt. Aber damit ist das Problem nicht überwunden. Denn ob es ins Selbstzerstörerische geht, ins Depressive, in die Apathie, oder ob sich das Aufbegehren, das Abgrenzenwollen vom Schmerzhaften nach außen schlägt ins Aggressive, ins Bekämpfen, Stigmatisieren und Diskriminieren anderer, ist gleich – das alles vernichtet unsere innere und gesellschaftliche Öffentlichkeit.

Ein deutliches Beispiel sind die Fotos, auf denen jemand die Aufschrift ‹Selberdenker› in einer Demonstration hochhält, um damit etwas über die ‹nicht denkende Masse› zu sagen und dann von den etablierten ‹nicht Denkenden› als ‹Covidiot› bezeichnet zu werden. Es geht weder darum, in sich selbst zu denken, noch um Idiotie oder Dummheit. Es geht um unsere menschliche Fähigkeit, etwas zu denken, also uns selbst für das Denken verlassen zu können.

Das Meinen beschattet die Gedanken

Vielleicht ist es diese unausgebildete Fähigkeit, die uns unsicher macht im Umgang mit anderem. Obwohl, ironischerweise, alles und jeder etwas anderes ist als ich. Doch das kann ich vergessen, wenn ich Zugehörigkeit suche und finde. Unsere Kultur bietet nicht nur alle möglichen Zugehörigkeiten an, sie hat auch durch den enormen Konsum eine immense Homogenität erzeugt. Im Druck dieser Homogenität gehen freiwillige Anpassung und ein großer, globaler Mainstream-Kult einher, die kaum Platz lassen für das andere als etwas Fremdes, Originelles, Einzigartiges, Unwiederholbares, Lebendiges – etwas, das ich mir gar nicht aneignen, sondern das ich allerhöchstens erkennen kann. Das ist eine industrielle Tendenz, aus der wir langsam historisch herauswachsen, die wir aber innerlich überhaupt nicht überwunden haben. Darum strebe ich manchmal lieber eine Meinung zu etwas oder jemandem an als eine Begegnung, für die ich meine Neigung, dazuzugehören, mich verorten zu können, teilzuhaben, aufgeben müsste.

Das andere als etwas Fremdes, Originelles, Einzigartiges, Unwiederholbares, Lebendiges kann ich mir gar nicht aneignen, sondern ich kann es allerhöchstens erkennen.

Zurück zu dem Beispiel am Anfang: Die simple Begegnung auf der Straße. Wenn man schon die Bedeutung einer Krankheit nicht erkennen kann, dann möchte man trotzdem gern eine Meinung dazu oder wenigstens eine Meinung über die Meinung des anderen haben. Das ist auch nicht neu in dieser Krise. Menschen haben andere Menschen stets zu Objekten ihrer eigenen Anschauungen gemacht, die man einordnen könnte. Ganz egal, ob anhand ihrer äußeren Erscheinung, ihres Geschlechts, ihres Status, ihrer Weltanschauung usw. Aber was ist eigentlich das Problem, wenn ich unbesorgt und ohne Emphase einen Standpunkt einnehme und dann vielleicht abgewiesen oder kritisiert werde oder ihn später selbst revidieren muss? Warum sollte mir dafür die Seelenruhe fehlen, warum sollte ich kein Interesse, keine Initiative zeigen, um etwas anderes zu erfahren, das gar nicht in mir sein kann ohne ein echtes Gegenüber?

Mut, sich selbst zu verlassen

Meinen statt Denken impliziert immer das Ausschaffen der Ambivalenz, der Uneindeutigkeit. Darin ist es nur einem dienlich: dem Aufbau von Macht. Dabei stirbt der Raum, in dem ein Miteinander, Sprechen, Denken, Handeln sein könnten. Meinungen dienen der Kategorisierung, wer über wen und was entscheiden darf und wer nicht. Der Kampf um Meinungen und Meinungshoheit ist daher ein politischer Zweck, aber kein spiritueller. Spiritualität kann nicht einschließen, sich an seiner erlebten Macht oder Ohnmacht zu berauschen und die eigentliche Suche nach Sicherheit im Denken auszuschalten.

Ich kann mir vorstellen, ein spiritualisiertes Leben hieße jetzt, Ambivalenz in der Seele anerkennen und stehen lassen zu können; sie als Vehikel zu betrachten für eine Öffnung hin zu Neuem, das wir weder abschätzen noch erwarten können.

Es ist vielleicht zu Beginn schwieriger, sich selbst außerhalb des Rahmens zu setzen und das eigene Sicherheitsbedürfnis mit etwas anderem als einem Vorurteil zu besänftigen. Aber nur im Durchgang durch dieses Feuer könnte tatsächlich Freiheit entstehen und Liebe möglich werden.

Es enthält eine spezielle Poesie, dass von dieser Pandemie als ‹Corona›, also Krone, gesprochen wurde. Tatsächlich symbolisiert sie eine Zeit, in der wir kollektiv mit unserem Haupt, unserer individuellen Denkfähigkeit in die Krise kommen, weil wir alle betroffen sind. Das Intellektuelle, das Wissen, die Informationen, der Verstand können die Komplexität nicht tragen. Es wird wohl noch lange dauern, bis wir gekrönt werden und als Königinnen und Könige über die Erde schreiten dürfen. Ein guter Zeitpunkt, sich darum jetzt zu bescheiden und das Nichtwissen und die Unsicherheit sich selbst und anderen zuzugestehen. Wir könnten versuchen, die Kleider des Hochmuts und die Schuhe der Angst so weit wie möglich abzustreifen und statt einer gut geschnittenen Meinung demütig-mutig einen genauso nackten Gedanken aufzusuchen.


Titelbild: Adrien Olichon/Unsplash

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