Die Geschichte erzähle ich gern: Als Georg Unger, ehemaliger Leiter der Mathematisch-Astronomischen Sektion, mit seinem damaligen Nachfolger Georg Glöckler und mir seinen 90. Geburtstag feierte, kamen wir auf seine 70-jährige Ehe mit Ruth Unger-Palmer zu sprechen.
Da sagte Georg Unger, dass sie ihm zu Beginn der Ehe ziemlich fremd gewesen sei. Nach 30 Jahren habe sich dieses Gefühl aber verwandelt, da sei sie ihm an seiner Seite zum Rätsel geworden. Doch auch dieses Stadium habe er hinter sich lassen können, so der betagte Mathematiker, denn nach 60 Jahren sei sie ihm dann zum Mysterium geworden. Ja, wie Bodo v. Plato hier im ‹Goetheanum› schrieb (‹Ethik der Beziehung› in ‹Goethanum› vom 4. Februar 2016), dienen Freundschaft und Partnerschaft heute nicht dazu, die gegenseitige Fremdheit beiseitezuschaffen, sondern vielmehr dazu, sie zu vertiefen. Der Graben, die Kluft verschwindet nicht, aber es fällt Licht in sie. Das ursprünglich Fremde rückt so näher und zugleich in die Ferne, es wird zum Rätsel. Wie in der Unger’schen Ehe kann sich diese Vertiefung dann noch mal vollziehen, vom Rätsel zum Mysterium. In die Fremdheit dringt Bewusstsein, sodass sie nicht verschwindet, sondern sich transformiert. Das Unbekannte gewinnt Kontur, ohne seinen Reiz, seine Tiefe zu verlieren. Es ist wie bei einem Geheimnis: Wenn man es lüftet, zeigt es erst seinen eigentlichen Wert.
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