Nur was Wunde ist, nimmt wahr

Über Paul Celan, seine Person, sein lyrisches Werk und sein Leben sind viele gute Bücher und Aufsätze geschrieben worden. Das kann man alles nachlesen. Ich habe mich entschieden, hier nur ein paar persönliche Unterstreichungen vorzunehmen, ein paar Aspekte zu benennen, die mir wichtig sind in der Beschäftigung mit Celan und seinem Werk, Wegmarken, die mich bewegen, fünf an der Zahl. Freilich gibt es noch unzählige andere.


Ich beginne chronologisch oder lebensbiografisch von hinten, rückwärts, und mit dem am wenigsten bekannten Punkt: seinem schweren Los als Patient der Psychiatrie. Er, Paul Celan, der eigentlich Paul Antschel hieß, ein vertriebener, ‹deportierter› Ostjude aus Czernowitz, aus der Bukowina, war fünfmal in klinischer Behandlung in den letzten sieben Jahren seines Lebens, von 1963 bis 1970, oft viele Monate lang. «Hinter Anstaltsgittern und dachte, es sei für immer …» Dann gab er schließlich immer mehr auf, konnte nicht mehr, «zerheilt» oder «wundgeheilt», wie er sagte, nicht zuletzt durch die zwangsverordneten Psychopharmaka in seiner Konzentrationsfähigkeit eingeschränkt, auch in seiner Erinnerungsfähigkeit und Beweglichkeit eingeschränkt, depressiv und verzweifelt. Er war einst so anders angetreten – lebensfroh und licht, humorvoll, charmant und elegant. «Die Zerstörungen reichen bis in den Kern meiner Existenz hinein.» Er hielt Paris und das Leben – sein Leben – am Ende nicht mehr aus. Die eigenen Gedichte gaben ihm zuweilen noch eine «Daseinsmöglichkeit», vor allem, wenn er sie las, laut las, vor Freunden. «Das Gedicht, so fragil es sein mag, es ist, was es heute kaum mehr gibt: es ist solidarisch. Es steht zu dir. Es steht, wo das Nahe versagt, mit dem Fernen – auch dem Menschlich-Fernen – zu dir, dem es sich zusagt. Es ist das Zweite im Kern und im Gehäus deiner Verzweiflung.» «Krokus, vom gastlichen / Tisch aus gesehn: / zeichenfühliges / kleines Exil / einer gemeinsamen / Wahrheit, / du brauchst / jeden Halm.» Er betrachtete sein Leben als weitgehend vernichtet. «Départ Paul», schrieb er in seinen Kalender am 19. April 1970, und unterstrich das Ganze zweimal. Dann verschwand er und wurde später leblos in der Seine gefunden. «Die Segel braucht keiner zu streichen, / ich Fahrensmann / geh. […]»

Weil die Gesellschaft nicht neu anzufangen vermochte

Er hat sein Leben nicht willkürlich zerstört, auch wenn seine reaktiven psychotischen oder präpsychotischen Zusammenbrüche gefährlich waren, für sich und die anderen. Auch die Shoah hat das Leben Celans meines Erachtens nicht zerstört, obwohl sie das seiner Eltern kostete und Millionen anderer. Die Shoah prägte ihn, gravierte sich ein. Was ihm nach 1945 aber entscheidend zusetzte, lebensentscheidend zusetzte, war, wie ich meine, der fehlende Neuanfang einer menschlichen Gesellschaft nach Auschwitz, waren der bleibende oder wieder neu aufflammende Antisemitismus, Imperialismus und Rassismus, das – unter anderen Vorzeichen – fortgesetzte System der Macht und der Beherrschung. Dann die schwere, über Jahre anhaltende, systematisch betriebene Diffamierung seiner Person und seines Werkes, seiner «Lebensschrift», durch die aggressive Psychopathin Claire Goll, ihren grotesken Plagiatsvorwurf und die perfide Behauptung, er habe das Leid seiner Lebensgeschichte nur erfunden, sich selbst inszeniert, er, gerade er, der ein Verfolgter und Geschundener war, mit einer ausgeprägten Moralität und Gewissenskraft als Künstler. «Handwerk – das ist Sache der Hände. Und diese Hände wiederum gehören nur einem Menschen, d. h. einem einmaligen und sterblichen Seelenwesen, das mit seiner Stimme und seiner Stummheit einen Weg sucht. Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte. Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht.» Die Konstellationen seines Zusammenbruchs oder seiner Zusammenbrüche sind heute gut rekonstruierbar, die ‹sequenzielle Traumatisierung› im Sinne von Hans Keilson (der sie bei Kindern erforschte). Celan, hochbegabt und ungemein sprachgebildet, war ‹lecteur d’allemand› an der Pariser Eliteuniversität École Normale Supérieure (ENS) in der Rue d’Ulm, aber kam über längere Zeit aus der psychiatrischen Klinik dahin, mit genehmigtem Ausgang. Zuletzt hielt er noch ein Kafka-Seminar. Wann hat es das jemals zuvor an der ENS gegeben? Und wer wusste im Sommer 1967, als Celan im Audimax der Universität Freiburg vor 1200 Menschen seine Gedichte las, dass er direkt aus der Psychiatrie von Paris (St. Anne) kam? Hat das einer vor ihm so vermocht? Er lebte von 1920 bis 1970, 13 Jahre bis zum Anbruch der NS-Diktatur und 25 Jahre nach ihrem Ende, inmitten des 20. Jahrhunderts, einer Zeit der Extreme und des einbrechenden Bösen.

Paul Celan in seiner Bibliothek, 1959. Foto von Gisèle Celan-Lestrange. © DLA-Marbach.

Universität Freiburg. Damit bin ich bei meinem zweiten Punkt angekommen, bei Freiburg und Martin Heidegger, auf dessen «kommendes Wort im Herzen» Celan lange setzte; aber Heidegger schwieg über seine ns-Vergangenheit, schwieg sich aus. Celan schätzte Heideggers philosophisches, existenz- und sprachphilosophisches Werk außerordentlich – und Heidegger Celans Lyrik. Aber über seinen eigenen Irrgang des Jahres 1933/34 brachte Heidegger gegenüber Celan bis zuletzt kein Wort über die Lippen, über sein NS-Rektorat und alles damit Verbundene. Er bedauerte es ihm gegenüber nicht, entschuldigte sich nicht, kam nicht darauf zu sprechen, obwohl Celan wartete und Heidegger wusste, dass er wartete. «Ins Hüttenbuch, mit dem Blick auf den Brunnenstern, mit einer Hoffnung auf ein kommendes Wort im Herzen», schrieb ihm der Dichter aus Czernowitz und Paris ins Gästebuch von Todtnauberg. Die Hoffnung sah sich getäuscht, einmal mehr. Heidegger, der Denker, machte keine Ausnahme in der deutschen Misere. Ganz am Ende, in der Karwoche des Jahres 1970, wenige Wochen vor seinem Tod, war Paul Celan noch einmal lesend in Freiburg und zu Besuch am Isenheimer Altar in Colmar, nach einem finalen Gang zu den Hölderlin-Stätten in Lauffen und Tübingen, zu Hölderlin, der ihm lebenslang nahestand. Dann war es genug. Heidegger, der Hölderlin und Celan so gut und so sensibel verstand, ihr Werk und ihre Tragik, Heidegger, der so viel von Traumatisierung verstand, scheiterte an der Kleinheit seiner Person, an seinem deutsch-bürgerlichen Mittelmaß, scheiterte an der Verdrängung und Verleugnung der NS-Geschichte, seiner NS-Geschichte. Kaum zu glauben, aber es war so.

Das Gedicht will zu einem Andern

Paul Celan hat lange nicht aufgegeben, sehr lange, das möchte ich unterstreichen, auch wenn ihm am Ende, im April 1970, die Kraft ausging. Das ist mein dritter Punkt. «Verlieren Sie nicht die Zuversicht, lieber Peter! Ich weiß aus Erfahrung, wie viel Widerstand und Arbeitskraft unsereins mitbekommen hat: erstaunlich viel!», schrieb er einmal an den Germanisten und ungarischen Juden Peter Szondi, der mit 15 Jahren in Bergen-Belsen gelandet war und ihm, Paul Celan, 1971 in den selbst gesetzten Tod nachfolgen sollte. Aber was heißt hier ‹selbst gesetzt›? Celan hatte «Widerstand» und «Arbeitskraft», auch Szondi – und das Du, die Hoffnung auf das Du, das «ansprechbare Du», war seiner Lyrik eingeschrieben, trotz allem, oder gerade deswegen. Viele behaupteten und behaupten, seine Gedichte seien schwer verständlich oder unverständlich. Ja, sie wurden über die Jahre hermetischer und kryptischer, auch kürzer («Das Gedicht zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen»); dennoch erschließen sich seine Gedichte, auch die späten, nach wie vor im Lesen, im wiederkehrenden Lesen und inneren Hören, oder können dies zumindest. Man begegnet ihnen und ihm, dem, der sie einst schrieb und ihnen mitgegeben ist. Celan war Martin Buber und der Dialogphilosophie, ja, dem «pneumatischen Judentum» und seiner Begegnungskraft zuinnerst verbunden. «Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiss nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: Sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit.» «Sprachwaage, Wortwaage, Heimat- / waage Exil.» «Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu. Das Gedicht wird […] zum Gedicht eines – immer noch – Wahrnehmenden, dem Erscheinenden Zugewandten, dieses Erscheinende Befragenden und Ansprechenden; es wird Gespräch – oft ist es verzweifeltes Gespräch.» Dazu, zu diesem dritten Punkt, ist hier nicht viel mehr zu sagen. «Du weißt, was meine Gedichte sind – lies sie, das spüre ich dann», schrieb Paul Celan noch acht Tage vor seinem Tod an Ilana Shmueli in Israel. Gilt das noch immer, für heute Lesende? Ich hoffe und denke das.

Landschaften des 20. Jahrhunderts

Mit ihr, Ilana Shmueli, komme ich – und das ist mein vierter Punkt, meine vierte Wegmarke – in die Landschaft seiner Kindheit und Jugend zurück, nach Czernowitz in der Bukowina, wo auch sie, damals noch als Liane Schindler, groß wurde, sie, die er später in Paris und Israel wieder traf, die letzte große Hoffnung und Liebe seines Lebens. Heidegger wird als Person klein im Vergleich zu dieser Frau, so meine ich, angesichts ihres Einsatzes, ihrer Aufrichtigkeit, ihrer Wahrheit Paul Celan gegenüber, ihrem Ringen um ihn und sein Leben, sein Überleben, sein Durchhalten und Bestehen.

Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte. Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht.

Paul Celan

Czernowitz und Celan. Auch darüber sind Bücher verfasst worden, darunter ein hervorragendes von dem Arzt Israel Chalfen, der ebenfalls aus Czernowitz kam und die Biografie von Paul Antschels Jugend schrieb, die er dort miterlebt hatte, wo von 110 000 Einwohnern 50 000 Juden waren und viele Kulturen und Sprachen lebten, darunter die rumänische, die ukrainische, die deutsche und die jiddische. Mit knapp 18 Jahren verließ Paul dann die Heimat, fuhr zum Studium der Medizin nach Frankreich (weil er in Wien als Jude bereits nicht mehr studieren durfte), reiste mit dem Zug am 9. November 1938 über Krakau und Auschwitz nach Berlin. «Ich fahre nun durch einen deutschen Birkenwald. Wie sehr ich mich nach dem Anblick dieser Landschaft gesehnt habe, weißt Du, Edith; doch wenn ich über den Wipfeln der Bäume die dichten Rauchschleier hängen sehe, graut es mir, denn ich frage mich, ob dort wohl Synagogen brennen oder gar Menschen», so schrieb er unterwegs an eine Czernowitzer Freundin. Als er am 10. November 1938 am Anhalter Bahnhof in Berlin ausstieg, in seiner ersten deutschen Stadt, waren dort, wie im übrigen Land, gerade die Synagogen niedergebrannt worden, in der ‹Reichskristallnacht›. Fast alle Synagogen wurden zerstört, über 7000 Geschäfte geplündert, über 26 000 Juden in Konzentrationslager verschleppt, nach Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen. «Über Krakau / bist du gekommen, am Anhalter / Bahnhof / floss deinen Blicken ein Rauch zu, / der war schon von morgen.» 1967, drei Jahre vor seinem Tod, war Paul Celan dann noch einmal in Berlin, unterrichtete in Peter Szondis Seminar an der Universität und ging mit seinem Freund Walter Georgi zum Anhalter Bahnhof – oder dem, was als Ruine davon übrig blieb –, ging zum Landwehrkanal, dem Todesort von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, und zur Gedenkstätte Plötzensee, dem Hinrichtungsort der Widerständigen gegen Hitler. Er, Paul Celan, war, auch das möchte ich in meinem Beitrag zum 100. Geburtstag unterstreichen, auf seine Art ein Widerständiger. Walter Georgi hat mir von diesen letzten Gängen mit seinem Freund Paul Celan in Berlin erzählt, eingehend erzählt, in einem lauten Berliner Café vor zwölf Jahren.

Lazarenische Literatur

Mein fünfter Punkt ist denkbar einfach. Dem Philosophen Otto Pöggeler zufolge, dem ausgewiesenen Hegel-Spezialisten, exquisiten Literatur-, Celan- und Heidegger-Kenner, ist Celans große Lyrik, die Lyrik der ‹Todesfuge›, von ‹Tenebrae›, ‹Engführung› und ‹Psalm›, auf dem Niveau von Jeremia und Jesaja angesiedelt, von Sophokles, dem Sohar, von Meister Eckart und Hölderlin. Auch Heidegger teilte, so Pöggeler, diese qualitative Einschätzung. «Die Chance meiner Verse ist ihr Vorhandensein», so Paul Celan.

Die Chance seiner Gedichte ist ihr «Vorhandensein» in einer Zeit der Extreme, in der auch die Sprache nahezu zu Tode kam, zumindest die deutsche Sprache in den Händen der nsdap, der ss und sa, und – wie nie zuvor – der Auferstehung bedürftig wurde. «Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ‹angereichert› von all dem.» Celans Lyrik gehört für mich zur ‹lazarenischen Literatur› (Jean Cayrol), zu den Wegmarken einer Auferstehung der Sprache aus schwerster, nahezu tödlicher Verstümmelung; zu einer Auferstehung der Sprache und des Menschen, der menschlichen Sprache, des Menschlichen in einer – zunehmend – unmenschlichen und untermenschlichen Welt.

Celans Gedichte können – auch deswegen – in Zeiten großer Dunkelheit eine wichtige Hilfe zum Weiterleben sein, in Richtung einer anderen Zukunft, eingedenk alles Geschehenen und noch immer Geschehenden. Seine Gedichte sind, in ihrer Abgrundnähe und Spiritualität, heute außergewöhnlich aktuell, erschreckend aktuell, aber, wie ich meine, auf ganze eigene Weise auch ermutigend.


Zum Titel des Artikels siehe: Dokumention über Celan im SWR ‹Paul Celan – Dichter ist, wer menschlich spricht (Portrait 2014)›: «Ein Gedanke schmerzlich wirft sich herüber/nur was geschunden wurde, sagt wahr/und nur was Wunde ist, nimmt wahr.»

Zu Paul Celan von Peter Selg:

Dichter nach Auschwitz – Paul Celan und Nelly SachsVerlag des Ita Wegman Instituts, Arlesheim 2020.

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