Säkularismus, Religionen und Karikaturen

Am 16. Oktober wurde in der Region Paris einem Lehrer des staatlichen Schulwesens von einem fundamentalistischen Islamisten die Kehle aufgeschlitzt. Eine schreckliche Tat, die die Debatte über ‹den Laizismus französischen Stils› erneut entfachte. Der Lehrer hatte seine Schülerinnen und Schüler über Toleranz und Meinungsfreiheit unterrichtet, unter anderem illustriert an den berühmten Karikaturen des Propheten Mohammed aus der Zeitung ‹Charlie Hebdo›.


Aus spiritueller Sicht findet sich der Archetyp dieser Debatte in der Parabel ‹Die Steuer, die Caesar geschuldet wird›,1 die in unserer Gesellschaft als die Beziehung zwischen spirituellen und weltlichen Mächten übersetzt wird.

Religion, eine Meinung?

Unsere heutigen institutionellen Strukturen sind von komplexen Begriffsfeldern geprägt. In Frankreich sind sie das Erbe einer langen Geschichte, die bis zu den Religionskriegen im 16. Jahrhundert zurückreicht. Diese Kriege wurden von Heinrich IV. mit dem Edikt von Nantes abgeschlossen, welches – sich hauptsächlich an Katholiken und Protestanten richtend – Religionsfreiheit garantierte. Zur Zeit der Aufklärung und dann der wissenschaftlichen Revolution sorgte die Frage der Laizität für eine heftige Opposition zwischen Kirche und Staat. Es handelte sich nicht um religiösen Pluralismus, sondern um die Emanzipation des Staates von der Religion. Schließlich kam es zu dem ‹Gesetz von 1905›, das den Laizismus französischen Stils erfand. Dieses Gesetz verkündet Gewissensfreiheit, garantiert die freie Ausübung des Kultes und schreibt das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat fest. Die säkulare Republik bekräftigt damit, dass «keine Religion der Republik ihre Vorschriften aufzwingen kann und kein religiöses Prinzip zur Nichteinhaltung des Gesetzes führen darf».

Foto: T. Foz

Im aktuellen Kontext wird das Verhältnis zu Laizismus erneut besprochen. Der Islam bildet darin eine besondere Herausforderung. Seine Einbindung in eine Kultur, die aus jüdisch-christlichen Traditionen stammt, die äußerlich sichtbaren religiösen Zeichen – wie der Schleier – und die Verbindung mit geopolitischen Fragen erhitzen viele Gemüter. Der Begriff des offenen Säkularismus wird im Licht der Geschichte infrage gestellt. «Kritik, Satire, Spott und Blasphemie waren die Mittel, die benutzt wurden, um Frankreich aus dem Griff der Religion zu befreien. […] Der Islam kann kritisiert und verspottet werden, wie alle anderen Religionen, wie alle Überzeugungen, wie alle Meinungen, denn in einer Demokratie ist eine Religion eine Meinung, sie ist nicht heilig.»2

Nicht grenzenlos

Karikaturen von Religionen werden im Allgemeinen als Beweis für Gedankenfreiheit und freie Meinungsäußerung dargestellt, was grundlegende und sicherlich unbestreitbare Rechte sind. Doch die Unfähigkeit, sich in die Perspektive des anderen zu versetzen, polarisiert einseitige Haltungen und führt zu Provokationen. «Aber die Freiheit der Meinungsäußerung ist nicht grenzenlos. Wir haben die Pflicht, mit Respekt für andere zu handeln und zu versuchen, diejenigen, mit denen wir eine Gesellschaft und einen Planeten teilen, nicht willkürlich oder unnötig zu schädigen. […] Wir sind es uns selbst schuldig, uns der Wirkung unserer Worte und Taten auf andere bewusst zu sein.»3

Die Spiritualität der Werte hängt nicht nur von der Ethik ab, die sie verkünden, sondern auch von der Art und Weise, wie sie Gestalt annehmen wollen; sie sind untrennbar mit einer Ästhetik verbunden.

Für das französische Schulsystem gilt, dass «die Schüler in den Schulgebäuden keinem Proselytismus ausgesetzt werden dürfen, dass keine Vertragsschule von ihren Verpflichtungen zur Einhaltung des Lehrplans abweichen darf und dass sie keine Diskriminierung, sei es aufgrund der Religion oder nicht, praktizieren darf.» Nichtvertragliche Schulen sind nicht verpflichtet, die gleichen Lehr- und Stundenpläne zu befolgen, erhalten keine öffentliche finanzielle Unterstützung, müssen aber die gemeinsame Wissensbasis sicherstellen.

Ästhetik als Erzieherin

«Der einzige Kult in der Schule der Republik ist der Kult des Wissens.»4 Die von der Republik gewünschten Werte des Säkularismus werden in Frankreich als universelle Werte gesehen. Ihnen religiöse Werte entgegenzusetzen, führt in eine Sackgasse. Die Spiritualität der Werte hängt nicht nur von der Ethik ab, die sie verkünden, sondern auch von der Art und Weise, wie sie Gestalt annehmen können: Sie sind untrennbar mit einer Ästhetik verbunden. Die heutige Zivilisation neigt eindeutig mehr dazu, das Abscheuliche zu kultivieren als das Edle. Wenn die Auswirkungen der Qualität von sinnlichen Erlebnissen genauso ernst genommen werden wie die von konkreten Lebensmitteln, dann verschwindet die Lässigkeit. Gewiss, beim säkularen Religionsunterricht (auf Französisch ‹Lehre der religiösen Tatsachen› genannt) werden die Beiträge der verschiedenen Religionen durch Geschichte, Briefe, Bildkunst, Musik oder Philosophie illustriert. Aber die moralischen Kräfte der Kinder werden nicht durch Verkündigung von Werten wie Toleranz oder Mitgefühl gesteigert. Deshalb betont die Waldorfpädagogik die Bedeutung des Eintauchens, Jahr für Jahr, in die spirituelle Substanz, die die verschiedensten Mythologien und Religionen durchdringt. Für die Entwicklung von Aufgeschlossenheit, Toleranz und Respekt genügen moralisierende Gebote nicht. Es ist unerlässlich, eine offene Debatte unter den Jugendlichen zu fördern. Aber sie müssen auch in ihren persönlichen Gefühlen von echten Wahrnehmungen dessen genährt werden, was gut, wahr und schön ist, im Sinne einer ‹laizistischen Spiritualität›, wie der muslimische Philosoph Abdennour Bidar sie zum Beispiel beschreibt.5


Übersetzung: Louis Defèche

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Footnotes

  1. Evangelium nach Matthäus, 22–13.
  2. Pierre Jourde, Schriftsteller, Blog veröffentlicht am 20. Oktober auf der Website des ‹Nouvel Observateur›.
  3. Justin Trudeau (Premierminister Kanadas), Pressekonferenz, 31. Oktober 2020.
  4.  Robert Badinter, Tribute to Samuel Paty, 29. Oktober 2020, auf YouTube, Bildung-Frankreich.
  5. Siehe seinen Vortrag (auf Französisch).

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