Als sich in der Schweiz Künstler wie Carl Spitteler und Ferdinand Hodler mit großer Kraft für neue Ideale einsetzten, in Deutschland der ‹Blaue Reiter› vor die Menschen trat, wirkten in der Musikstadt Wien Josef Matthias Hauer und Arnold Schönberg als Neuerer. In der Zeit trat auch der 28-jährige Dr. Franz Thomastik, vielleicht als erster Geigenbauer mit Doktortitel, vor die Öffentlichkeit.
Franz Thomastik hatte das Glück, nicht als Künstler aufzutreten, sondern als wissenschaftlich geschulter Handwerker. Nach seinem Vortrag ‹Die Geige in der Geschichte, Physik und im Musikleben› und seinem offenbar ausgezeichneten Spiel hinter dem Vorhang anlässlich der Demonstration neu gebauter Streichinstrumente in Wiens Sternwarte Urania erhielt er vom Gewerbeamt der Stadt geeignete Räume, alle notwendigen Maschinen und Geräte sowie Gesellen zur Verwirklichung und Erforschung seiner in zwei Patenten beschriebenen vollkommen erneuerten Geige. Beginnend im Innenbereich der Geige und mit dem Ideal der ihm vorschwebenden Klangfarbe, schuf er, bis auf die Wirbel, jeden Teil der Geige neu und beschrieb sie in der klaren und unmissverständlichen Sprache des Erfinders. Die sieben Ansprüche des Patentes 47970 von 1911 lauten:
1. Streichinstrument – zur Erzeugung einer dem gesungenen Tone ähnlichen Klangfarbe, gekennzeichnet durch eine keilförmige Anordnung des Hals- und Saitenhalterklotzes, um von Gangunterschieden freie Schwingungen zu bedingen.
2. dass bei Verwendung gleichen Materials für Hals und Kopf einerseits und Boden andererseits die Gesamtlänge von Hals und Kopf der Länge des schwingenden Bodenteiles gleich ist, welche Anordnung durch Verlängerung des Kopfes erreicht wird.
3. die Schalllöcher mit abgerundeten Rändern, je nach dem gewünschten Vokalcharakter des Instrumentes von der kreisähnlichen bis zur schotenähnlichen Form variierend, im Abstande der doppelten Stegbreite angeordnet sind.
4. der Zargenkranz unterhalb des Steges am breitesten ist und gegen den Hals- und Saitenunterklotz zu sich allmählich verjüngt.
5. zur Versteifung des Zargenkranzes Mittelzargenklötze von plankonvexem Querschnitt zur Verwendung gelangen, um störende Einflüsse auf die Schwingungsverhältnisse zu vermeiden und die Herstellung des Zargenkranzes aus einem Stück zu ermöglichen.
6. die Oberkante des Saitenhaltersattels von derjenigen des Zargenkranzes ebenso weit absteht als die vom Steg in der gleichen Entfernung wie die Oberkante des Saitenhaltersattels liegende Stelle der Saiten von der Zargenkante, um die Resultierende ihres Auflagedruckes in den Steg zu verlegen.
7. der Stimmstock an seinem unteren Ende in einer bekannten warzenförmigen Erhöhung des Bodens eingeleimt ist und an seinem oberen Ende durch einen ebenfalls eingeleimten hölzernen Fixierungsstift mit der Decke verbunden wird.
Baubeginn
Bereits 1919 begann Thomastik mit der Herstellung von Saiten, später beschrieben in der Schrift ‹Die Stahlsaite als Kulturfaktor›. Im Vorwort dieser Schrift lesen wir: «Es hängt immer viel davon ab, ob sich die Zeitgenossen über eine neue Sache die richtigen Gedanken machen oder nicht.» Mit Gleichgesinnten gründete er am 18. Mai 1921 die Deutsche Geigenbauwerkstätte. Um mit seinen Mitarbeitern auch die Anthroposophie vertiefen zu können, gründete er mit Einwilligung Rudolf Steiners eine Arbeitsgruppe auf sachlichem Felde, welche sich Deutsche Vereinigung für Geigenbau (Österreich) nannte. Karl von Baltz charakterisiert ihn wie folgt: «Franz Thomastik war ein Erneuerer und Forscher, der ein vollkommener Handwerker war. Er hörte im Geistigen Töne und hatte sehr präzise Klangvorstellungen. In seinen braunen Augen lebte eine ungemeine Intensität des Blicks, er hatte einen starken Willen und, wie man sagt, ‹Eisen im Blut›. Als Anthroposoph war er kräftig und direkt und nahm, was er sagte, auf die eigene Kappe. Das anthroposophische Murmeln war ihm zuwider.»
Thomastik hielt viele Vorträge in verschiedenen Städten Deutschlands, auch in Breslau, wo Graf Kayserlinck eine Geige erwarb und mit Franz Thomastik Duett spielte. Am 18.2.1922 führte er in München das Folgende aus: «Wir streben bei der ‹Deutschen Geige› an, ihrem Ton einen gewissen Luftcharakter zu geben – so wie wir uns im Raum fühlen, wenn wir von einem Berge aus den Sternenhimmel betrachten – im Gegensatz zu dem flachen Eindruck von der Ebene aus. Forte und Piano werden nicht als Verstärkung und Abschwächung empfunden, sondern als Näherkommen und Entfernen. Während bei der Violine der Ton als vom Resonanzbrett kommend empfunden wird, erleben wir ihn bei der ‹Deutschen Geige› als im Raum schwebend; besonders beim Pianissimo kommt dies zum Ausdruck.» Das Thomastik-Quartett war hervorragend besetzt und unternahm zahlreiche Tourneen. Die einzige bedeutende Publikation einer Thomastik-Geige erschien 1984 in ‹The Strad› durch den Musiker Kurt Rokos. Er hatte 1924 in Prag einen Vortag gehört und auch eine Geige erworben. Er kommentiert, dass Thomastik wohl in der Lage gewesen wäre, alles, was nicht verfügbar war, herzustellen, wie Hemden, Schuhe, Socken, Kleidung.1
Begegnung mit Rudolf Steiner
Zwischen 1906 und 1908 muss Franz Thomastik bereits Rudolf Steiner begegnet sein. Als dieser 1917 zur sozialen Dreigliederung aufrief, schloss sich Thomastik mit Walter Johannes Stein und Ludwig Polzer-Hoditz dem nationalen Dreigliederungskomitee für Österreich an und setzte sich bis zur Gründung seiner eigenen Geigenbaufirma 1921 in zahlreichen Vorträgen mit aller Kraft dafür ein. Rudolf Steiner verglich bei einer Führung das Erste Goetheanum zweimal mit einer Geige. Am 28.8.1921 sagte er: «Meine besondere Sorge war, während der Bau gebaut wurde, die Akustik. Es ist ja so, dass auch die Akustik des Baues aus demselben Baugedanken heraus empfunden wurde. Meine Vorstellung bestand darin, dass ich erwarten musste, dass die akustische Frage aus der okkulten Forschung heraus für den Vortragenden gelöst werden kann. Sie wissen, wie schwierig es ist, man kann die Akustik nicht errechnen. Sie werden sehen, wie es gelungen ist, doch bis zu einer gewissen Vollkommenheit die Akustik durchzuführen. Sie können nun fragen, wie diese sieben Säulen, die das Geheimnis des Baues enthalten, mit der Akustik zusammenhängen. Die zwei Kuppeln innerhalb unseres Baues sind so leicht miteinander verbunden, dass sie eine Art Resonanzboden bilden; wie bei der Violine der Resonanzboden eine Rolle für die Tonfülle spielt. Natürlich, da das Ganze, sowohl die Säulen als auch die Kuppel, von Holz sind, muss sich die Akustik in ihrer Vollkommenheit erst mit den Jahren ergeben, wie sich auch die Akustik des Geigenkörpers erst mit den Jahren ergibt.»2
Sie haben dem Ätherleib der Geige einen physischen Leib gebaut
Rudolf Steiner
Zwei Tage später hörte er das Thomastik-Quartett bei einer Probe in Stuttgart, wo ihm der zweite Geiger, Franz Langer, ein Foto zum Signieren hinstreckte. Trotz des Tadels der Mitspieler nahm Rudolf Steiner sein Bild und gab es am Nachmittag mit dem Spruch zurück: «In der Kunst erlöst der Mensch, Den in der Welt gebundenen Geist, In der musikalischen Kunst, Den in ihm selbst gebundenen Geist. Zur freundlichen Erinnerung und für die Probe dank-end 30.8.1921.» Rudolf Steiner ist 1922 und 1923 in die Werkstatt im 4. Stock an der Mollardgasse 58a, Wien, 6. Bezirk, gestiegen. Beim ersten Besuch lag möglicherweise die jetzt im Besitz des Goetheanum befindliche Geige Nr. 44 im Rohbau offen und hat ihn zur Aussage veranlasst: «Sie haben dem Ätherleib der Geige einen physischen Leib gebaut.» Vom ersten Besuch sind zwei Berichte überliefert, von Karl Weidler und Ludwig Kremling. Ersterer schreibt: «Im Gespräch wurde berührt, welche Schwierigkeiten auftreten, wenn so eine neue Sache eingeführt werden soll. Die Menschen hängen am gewohnten, lieb gewordenen Alten. Viele Spieler von oft sehr teuer bezahlten Geigen sagen: Meine Geige hat so einen warmen Ton. Darauf sagte Rudolf Steiner: Auch ich habe in meiner Umgebung öfters Gelegenheit, für Ihre Instrumente einzutreten. Da pflege ich folgenden Vergleich zu machen: Die alten Geigen haben eine Wärme, wie wenn man sich ins Bett legt, und Ihre Geigen haben eine Wärme, wie wenn die Sonne aufgeht.»
Wege in der Welt
Nach diesen anfänglichen Erfolgen musste Franz Thomastik zwei Weltkriege durchstehen und 1944 durch eine Bombe eine vollständig ausgebrannte Werkstatt in Kauf nehmen. Außer neun Geigen wurden alle Celli, Bratschen, Holzvorräte, Aufzeichnungen und Pläne zerstört. Karl Weidler, sein jüngster Mitarbeiter, war nach der Grenzschließung 1934 wieder nach Nürnberg gezogen und produzierte in Lizenz die neuen Saiten. Nach dem Krieg begann er, sein eigenes Modell zu bauen, wesentlich vereinfacht gegenüber demjenigen seines Lehrers. Diese Weidler-Geigen fanden im ruhigen Nachkriegsumfeld eine gewisse Verbreitung, auch dank dem unermüdlichen Einsatz von Dieter Marx, der den Verein Freunde der Streichinstrumente nach Anregung Rudolf Steiners gründete (von 1978 bis 2016). Er publizierte die erste Broschüre zum Thema. Es standen ihm nie spielbare Thomastik-Instrumente zur Verfügung, weshalb dann der Impuls unter Weidler bekannt wurde und mit Michael Goldstein, Hamburg, und Reinhold Buhl, München, Künstler von Rang als Botschafter erhielt. Ersterer war so begeistert vom Klang einer Weidler-Geige, dass er deshalb Mitglied der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft wurde und auch David Oistrach und Yehudi Menuhin davon begeisterte.
Arthur Bay als Vertreter der dritten Generation begann 1980 in Hamburg nach den vorhandenen Modellen von Weidler zu bauen. Ihm war es vorbehalten, das erste vollständige Septett aus sieben verschiedenen Hölzern zu bauen. Er hat das neue Thomastik-Cello gebaut und wird an der Thomastik-Tagung vom 12./13. Dezember am Goetheanum den Hauptvortrag halten, bevor dann das noch junge Thomastik-Quartett (Planeten-Quartett) Dornach, das Heiligenberger Streichseptett und das Weidler-Kvartett Holland Konzerte spielen werden. Es werden auch die von Karl Weidler entwickelten Chrotta-Instrumente erklingen. In der Heilpädagogik und auch in der Musiktherapie werden sie sehr geschätzt. Aurelia Delin von der Klinik Arlesheim hat mit einem Chrotta-Cello eine Therapie entwickelt, die sie dann bei derselben Veranstaltung demonstrieren wird, ebenso wie Hedwig Kräutle über die Stimmung ausgehend von C-128 und dem Werk Maria Renolds sprechen wird.
Franz Thomastik war ein Michaelkämpfer durch und durch. Im Abschiedsbrief an seine Freunde schreibt er: «Lebet im Leibe, wie ihr könnt. Doch lebet und arbeitet so, dass euch die Menschen glauben, wenn ihr von Geisteswundern redet.»