Wie kommt die ‹Theorie› der Dreigliederung in die Welt? Wo
ist ihr Praxisort? Ein kleines Buch von Thomas Brunner blickt ins konkret Initiative.
Die anthroposophische Bewegung ist vielleicht die einzige geistige Bewegung der Moderne, die mehr durch ihre praktischen Tätigkeitsfelder bekannt ist als durch ihre theoretischen Arbeiten. Ein Schattendasein fristet entsprechend auch die vermeintliche ‹Theorie› der sozialen Dreigliederung, also die anthroposophische Sozialwissenschaft, obwohl gerade sie einen Schlüssel liefert, um die weltweiten gesellschaftlichen Schieflagen zu verstehen und heilend in sie einzugreifen.
Thomas Brunner hat nun, anknüpfend an sein sozialwissenschaftliches Hauptwerk ‹Der Neoliberalismus und die Bewusstseinsseele› (Edition Immanente, Berlin 2016), eine kleine, nur 73 Seiten umfassende Schrift vorgelegt, in der er die Frage nach der sozialen Dreigliederung methodisch und damit aus dem Blickwinkel der Praxis aufgreift: ‹Einsicht & Initiative. Aspekte zur sozialen Dreigliederung in methodischer Hinsicht›. Wir können sie begreifen als eine positive Antwort auf Rainer Mausfelds vorbildliche Analyse aus der Linken, ‹Angst und Macht› (Frankfurt a. M. 2019), denn Einsicht nimmt uns Ängste und Initiative vermag herrschende Machtverhältnisse zu überwinden.
Begriff und Wirklichkeit
Zunächst klärt der Autor grundlegend, dass die soziale Dreigliederung keine schöne Utopie ist, sondern eine Beschreibung, wie sich für heutige Menschen das gesellschaftliche Leben gestalten würde, wenn es an deren eigentlichen Wesenheit ausgerichtet wäre. Es sind nicht weniger als Urgedanken, die allem gesellschaftlichen Wirken innewohnen und die, wenn wir sie nicht zu erfassen vermögen, sondern ihnen durch gesellschaftliche Aus- und Einrichtungen zuwiderhandeln, auf uns zurückschlagen werden als soziale Krisen und Krankheiten des sozialen Organismus. Was nun Brunners Darstellung von anderen unterscheidet, ist, dass er nicht dabei stehen bleibt, eine artige Darstellung der sozialen Dreigliederung zu geben, sondern dort ansetzt, wo seiner Anschauung nach der Knackpunkt aller heute existierenden sozialen Schieflagen liegt.
Kernpunkt Staat
Dabei macht Thomas Brunner etwas, das gerade auch in denjenigen Kreisen, die überhaupt bereit sind, gesellschaftskritisch zu denken und zu agieren, gar nicht gerne gesehen wird: Er nimmt dasjenige der drei Glieder des eigentlich zu entwickelnden sozialen Organismus in die Kritik, welches wir als unseren politisch wirksamen Staat bezeichnen. Wenn man es wagt, den Staat kritisch in den Blick zu nehmen, erntet man zumeist umgehend einen Sturm der Entrüstung: Erstens haben wir doch diesen Staat gemeinsam demokratisch gewählt – «wir sind doch der Staat!», so heißt es oft –, und zweitens ist es doch gerade der Staat, der uns vor den Übergriffen der Wirtschaft schützt und bewahrt. Aber genau darin liegt für Thomas Brunner bereits die Pathologie: «Es ist die Realität einer Gesellschaft, die zuerst die Wirtschaft enthumanisiert und dann einen Sozialstaat einrichtet, der die geschaffenen Risse kitten soll.»1
Es geht nicht darum, aus einem unbestimmten Nichts heraus eine dreigliedrige Gesellschaft zu errichten, sondern es müssen die Wirtschaft und die Kultur nach und nach aus ihrer Bindung an den Staat – befreit werden.
Wenn wir dies zu Ende denken, kann sich ein Mühlrad in unserem Kopf bewegen und wir werden überhaupt erst frei, die Dreigliederung konkret zu verstehen. – Denn nun kann uns klar werden: «Was die Zukunft anstreben muss, ist, dass die Staatsmacht kein Sammelbecken ist für alles, was unterkriechen will unter diese Macht, sondern dass sie gestellt werde auf demokratischen Boden. […] Wenn die Demokratie durchgeführt werden soll, ist das einzig Gesunde, das Geistesleben auf der einen Seite und den Wirtschaftskreislauf auf der anderen Seite auf freien Boden zu stellen.»2 Es geht nicht darum, aus einem unbestimmten Nichts heraus eine dreigliedrige Gesellschaft zu errichten, sondern es müssen die Wirtschaft und die Kultur nach und nach aus ihrer bisherigen Bindung an den Staat befreit werden. Wir müssen Wirtschaft und Kultur aus dem Staatsleben ausgliedern, um zu einem wesensgemäßen sozialen Lebenszusammenhang zu kommen.
Politisch gesund
Von zentraler Bedeutung scheint mir dabei auch Thomas Brunners Hinweis zu sein, dass ein Anfang, um innerhalb der gegebenen Verhältnisse zur Wirkung zu kommen, nicht ohne Kompromisse gehen wird, dass aber genauso gilt: «Der Kompromiss darf nicht zur Lehre werden! Das aber bedeutet, dass trotz aller im Rahmen des Gegebenen notwendig erscheinenden Kompromisse das grundlegende Interesse an den Urgedanken gepflegt werden muss.»3 In dem zweiten Aufsatz (von insgesamt drei) finden sich weitere Gesichtspunkte zur methodischen Praxis, die in der Einsicht gipfeln, dass analog zu Steiners physiologischer Auffassung vom Herzorgan «die ‹Verlebendigung des Rechtslebens› nicht durch eine pumpende Funktion des (Steuer- und Lenkungs-)Staates geleistet werden kann, sondern aus der Peripherie der sich ihrer eigentlichen Aufgaben bewusst werdenden Sphären des Wirtschafts- und Geisteslebens impulsiert werden muss.»4 Steiner (ebenda): «Die Rechtsinstitution ist gewissermaßen das Herz des sozialen Organismus und setzt voraus, dass anderes sich entfaltet; sie setzt voraus, dass andere Kräfte schon da sind.»5 ‹Setzt voraus› heißt: Erst brauchen wir ein eigenständiges Geistes- und Wirtschaftsleben, und dann wird aus deren Wirken sich ein gesundes politisches Leben schon entwickeln.
Gegen Einseitigkeit
Es ist also keine Aufgabe der Politik, sondern eine der sich ihrer eigentlichen Aufgaben erst noch bewusst werdenden Wirtschaft und eine der frei werdenden Kultur bzw. Zivilgesellschaft, die wir initiativ in die Hände zu nehmen haben; dann wird sich alles Weitere finden. Und damit wir dabei nicht in Einzelinstitutionen herumrühren, um etwa die Dreigliederung in einen Firmen- oder Schulbetrieb einzuführen, oder irgendwie noch im nationalstaatlichen Denken befangen bleiben, gibt der Autor uns auch hier die Perspektive, eine weltweite: «Das ist mit Händen zu greifen, seit wir Weltwirtschaft haben, dass wir die einzelnen Staaten nur mit Zellen vergleichen können. Die ganze Erde, als Wirtschaftsorganismus gedacht, ist der soziale Organismus.»6
Thomas Brunner zeigt schließlich, was schon Anfang des 20. Jahrhundert angelegt wurde: «Die Anthroposophische Gesellschaft sollte ein vorbildlich transnationales freies Geistesleben ausbilden; der Bund für Dreigliederung sollte den Staat auf seine wesensgemäßen Aufgaben umbilden; die Aktiengesellschaft Der Kommende Tag sollte ein assoziatives Leben zur wechselseitigen ‹Förderung wirtschaftlicher und geistiger Werte› begründen.»7 Letztere zwei Initiativen scheiterten schon zu Lebzeiten Steiners und die Anthroposophische Gesellschaft verlor bald nach seinem Tod ihre Kraft, weltweit Menschen zu integrieren. Dabei stehen immer wieder im Wege «einseitige Prioritätsbehauptungen, gleichgültig, ob sie die ‹innere Schulung› oder die ‹soziale Umgestaltung›, die ‹Grundlagenarbeit› oder ‹praktische Schritte› betreffen»8 Sie «führen nicht weiter, sondern sie verhindern vielmehr das Wesentliche: eine freie Begegnungskultur, deren Inhalt das Bemühen um eine allgemein-menschliche Verständigung ist»9.
Zivilgesellschaft
In diesem Sinne darf man vielleicht auf die von Thomas Brunner ins Leben gerufene Freie Bildungsstiftung verweisen, die sich der ‹Besinnung auf die Kernsphäre des Geisteslebens› widmet, von dem aus eine initiative Wirtschaft zu befeuern ist; aber nicht durch abstrakte Maximen, sondern nur durch leitende Urgedanken, in deren Licht sich die konkreten Menschen gemäß dem, was tatsächlich in ihnen und zwischen ihnen lebt, zusammenfinden. «Eine in diesem Sinne auszubildende Sozialwissenschaft wird sich aller inhaltlichen Bestimmung enthalten und auf die Beschreibung der Bedingungen beschränken, die dem individuellen Menschen eine bestmögliche Entfaltung seiner Fähigkeiten im sozialen Zusammenwirken ermöglichen […].»10 – Zu diesem Schluss kommt sie, weil sie im Sinne der anthroposophischen Geisteswissenschaft realisiert, dass die Wahrheit – und zumal die soziale Wahrheit – «nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten.»11
Entsprechend zeigt uns der Autor in seinem dritten Beitrag, der uns einen symptomatischen Meditationsspruch Rudolf Steiners entfaltet, dass nur das Zusammenspiel von Schillers Wahrheitsfindung im eigenen Herzen und Goethes Wahrheitsfindung an der äußeren Schöpfung zu derjenigen Weite und Freiheit des individuellen Geist-Erlebens vordringen kann, wie sie in einer auf die Urgedanken zielenden Geisteswissenschaft leben soll: «Die von allem Nationalen unabhängige gw [Geisteswissenschaft] fängt den Goetheanismus auf und verwandelt ihn 1. in das geistige Begreifen der Welt, 2. in die soziale Dreigestaltung der Welt.»12 – Für eine Sozialwissenschaft in diesem Geiste hat Thomas Brunner eine vorbildliche Arbeit geliefert, die uns als noch lange nachhaltige Speise auf dem Weg dienen möge.
Buch Thomas Brunner, Einsicht & Initiative – Aspekte zur sozialen Dreigliederung in methodischer Hinsicht, Edition Immanente, Berlin 2020.
Footnotes
- Thomas Brunner, Einsicht & Initiative, Edition Immanente, Berlin 2020, S. 16.
- Ebd., S. 15, Rudolf Steiner, 19.6.1919, GA 330.
- Ebd., S. 28.
- Ebd., S. 45.
- Ebd., S. 45: Fragenbeantwortung vom 6.4.1920, GA 337b.
- Ebd., S. 24, Rudolf Steiner, 24.7.1922, GA 340.
- Ebd., S. 48.
- Ebd., S. 49.
- Ebd., S. 49 f.
- Ebd., S. 63.
- Ebd., S. 66, GA 3, Vorrede.
- Ebd., S. 67, Rex Raab, Edith Maryon, Dornach 1993.