Dass ein bestimmtes Buch mit keinem anderen der Welt vergleichbar sei, dies auszusprechen mag banal oder verherrlichend wirken. Doch nichts von beidem trifft zu im Fall von Johannes Voigts jüngst erschienenem Büchlein ‹Die Befreiung des Einhorns›.
Schon mit den ersten einleitenden Sätzen werde ich unverhofft in einen sinfonisch-gewaltigen, dabei doch feingliedrig verästelten Wortstrom gezogen, der als Strom so mitreißt, bewegt, dass ich beständig darauf achtgeben muss, dass der Inhalt des Gesagten, mehr ‹Geströmten›, nicht auf den rauschenden Sprachwogen davongleitet. Mir wird etwas erfahrbar, was ich sonst nur vom Lesen meisterhafter Dichtkunst kenne: dass ich durch das Lesen im unmittelbaren Sinne des Wortes gebildet werde, dass ich mich den künstlerischen Kräften hingebe und mich von ihnen bilden lasse.
Bildsprachliche Philosophie
Diese Form scheint zunächst in Widerspruch zum Inhalt des eigentlich philosophischen Buches zu stehen – müsste da nicht Gedanke für Gedanke, jeder klar wie Kristallperlen an einer Schnur, ohne schmückendes Beiwerk, funkelnde Kolorierung und mäandernde Umwege nacheinander aufgereiht sein? Nein, nicht unbedingt. Gerade weil der Autor das Einhorn als lebendiges, uns allen untergründig vertrautes Bild-Wesen als Zentrum seiner Ausführungen wählt, liegt eine eher märchenhaft-duftige Schreibweise, die dennoch der inneren Leuchtkraft und Klarheit nicht entbehrt, nahe und überzeugt. Wie in jedem Märchen treten schillernde, vielfarbige Gestalten aus oft unverhoffter Richtung auf und deuten, mehr singend als sprechend, auf die philosophische Pointe. Rudolf Steiner, antike Geschichtsschreiber, das Thomasevangelium, Rilke (auch wenn dieser vermeldet, das Einhorn sei «das Tier, das es nicht gibt»), Legenden, Märchen, Sagen, Bilder – viele künden vom ehemals paradiesischen Zustand des Einsseins. Dafür ist das eine Horn des Einhorns ein Bild. Und wie wurde dieser Zustand (Voigt meint, «aus Freiheit und Liebe zum Menschen») verlassen, in die Zweiheit hinein? Alle irdischen behörnten Tiere tragen deren zwei. Damit verbunden die Frage: War der sogenannte Sündenfall eine ‹Panne› der Weltgeschichte oder erst die Möglichkeit des vernunft- und ichbegabten Menschen, zu sich selbst zu kommen, den Rückweg des verlorenen Sohnes zu gehen?
Das Sonnenhorn
Die im Buch klar beantwortete Frage – natürlich handelte es sich nicht um eine ‹Panne› – ist die treibende Kraft der Gedankenströme des Autors. Voigt deutet den Sündenfall auch als eine Ent-Zweiung des Denkens in mondenhaft-beobachtend und sonnenhaft-beleuchtend. Dabei repräsentiert das Einhorn beides zugleich: in seinem Tiersein als solches den Mondenaspekt und in seinem klar geformten, der Unterscheidung, Benennung und Deutung fähigen Horn den Sonnenaspekt; dem Horn, welches der Gottesberührung fähig ist. Nicht ist das Einhorn unversehens aus dem Paradies ‹geplumpst›, sondern es folgte Adam und Eva auf ihrem Weg außerhalb des Paradieses – bewusst und aus Liebe. Aus der innigen Schilderung dieses Weges, des Einhorns zusammen mit den Menschen, besteht dieses Buch zum größten Teil. Zur Seite gestellt wird dem Einhorn zeitweise der Löwe, der für ein überbordendes, noch nicht vom Ich gereinigtes Triebleben steht. Jener fordert das sonnenhafte Horn für sich ein. Er erhält es auch und tötet mit ihm schließlich das Einhorn.
Neugeburt
Die sich aus den Bildern ergebende Deutung Voigts ist sowohl zart tastend und umkreisend vorgebracht als auch klar und schlüssig. Er hört den Bildern zu, als ob sie Musik wären, und zeichnet dann gekonnt auf, was er vernommen hat. So ist auch nicht verwunderlich, dass seine Betrachtungen in einen Bildzyklus aus dem 17. Jahrhundert, bestehend aus sechs Teppichen, münden. Der Autor deutet den Gang durch die barocke Motivik als Entwicklungsgang der Seele und schält durch feine Beobachtung und Nachklingenlassen heraus, dass beispielsweise die ersten drei Teppiche die Stufen der Empfindungs-, der Verstandes- und der Bewusstseinsseele abbilden. Darauf folgen Stufen des (noch) höheren Bewusstseins, folgend auf eine Neugeburt, ein Neu-Erwachen und eine Wieder-Verbindung, nun von einer geläuterten Warte aus, mit der irdischen Welt. Erstmals steht das Einhorn ruhig und sicher auf allen Vieren neben ihr, und auch der ihm gegenübersitzende Löwe wirkt erlöst und befriedet. Beide Wesen werden erlöst, wenn ich als Mensch meine geistig-seelischen Kräfte läutere, ausbilde und stärke. Das Paradies bleibt so kein unerreichbarer, utopischer Garten, sondern kann sich schon auf die Erde niederlassen und zu blühen beginnen. Das Einhorn, ist es nicht doch mehr Mensch als Tier? Bin ich es am Ende womöglich selbst? Dieses nicht nur in der Ausstattung kostbar gestaltete Buch lädt zur eigenen Kontemplation dieser Fragen ein. Mein Bild dazu ist: Es sollte an einem stillen, freien Nachmittag zu edlem Grüntee und feinstem Gebäck in einem großen, samtenen Sessel bei Kerzenschein verkostet werden.