Die Ost-West-Konfrontation spielt sich nicht nur in Europa oder im Nahen Osten ab, sondern auch in Asien, und besonders akut auf der Koreanischen Halbinsel. Abwechslung zwischen Spannung und Entspannung sind tägliches Brot geworden an dieser Grenze, in dieser Region wo sich USA, China und Russland wie in einem Knoten begegnen. Als Monika Kiel-Hinrichsen anlässlich der ‹Sommerakademie für Waldorfpädagogik› in Südkorea weilte, konnte sie die Demilitarisierte Zone (DMZ) besuchen. Sie berichtet hier von ihren Eindrücken.
Anflug auf Incheon! Wenige Minuten später gehe ich auf das Gate zu, an dem zwei Koreanerinnen fröhlich ein Schild mit meinem Namen durch die Luft schwingen. – Die Skyline von Seoul, der zweitgrößten Stadt der Welt, mit ihren riesigen Wolkenkratzern zeigt sich uns in all ihrer Komplexität, was sich in kleinen Irrfahrten bis zum anvisierten Waldorfkindergarten ausdrückt. Im Erdgeschoss eines Hochhauses verbirgt sich hinter einer schlichten Haustür ein eingruppiger Waldorfkindergarten. Wir werden bereits von den Kindern und einigen Eltern erwartet! Die koreanische Gastfreundschaft öffnet mir den Blick in eine so ganz andere Kultur, was sich in den folgenden Tagen noch ausdehnen wird. Das Essen in seiner Vielfalt wird dabei immer wieder eine große Rolle spielen. Der kleine Ung nimmt meine Hand und führt mich in den Gruppenraum, in dem gerade ein hohes Haus entsteht. Die mir vertrauten farbigen Spieltücher bilden die Umgebung dazu. Vorbild und Nachahmung erschließen sich mir über das entstehende Hochhaus sofort. Die Waldorferzieherinnen knien bei ihren Tätigkeiten wie Häkeln und Sticken auf dem Boden, und ganz vertraut spielen die Kinder um sie herum. Stolz zeigen mir die Eltern das kleine Vorgärtchen, in dem die Kinder ein Stück Natur inmitten der Hochhäuser erleben können. Eines ihrer Motive, ihr Kind in einen Waldorfkindergarten zu geben. Hier lohnt sich ein Blick in das koreanische Bildungssystem, das bereits im Kindergarten zum Tragen kommt, denn die Kinder werden bereits dort in Jahrgangsklassen untergebracht, wo ein intellektuelles Lernen dominiert. Die kindliche Schaffensfreude, die Fantasie und die Lust am Spielen bleiben jedoch auf der Strecke. Hierbei ist die Dominanz der elektronischen Medienangebote im Kindergarten besonders hervorzuheben.
Eine andere Jugend
Mit den kleinen koreanischen Jungen und Mädchen in meinem Herzen scheint der ‹erste Stein› für die am nächsten Tag beginnende ‹Sommerakademie für Waldorfpädagogik› (eine von drei Bewegungen für Waldorfpädagogik) gelegt zu sein. Was für eine Überraschung, am kommenden Morgen 65 ErzieherInnen (darunter vier männliche Kollegen) in einem Vorort von Seoul pünktlich um 9 Uhr an ihren Tischen sitzen zu sehen. Kein kleckerweises Zuspätkommen, stattdessen höchste Präsenz und Konzentration, gepaart mit fleißigem Mitschreiben. ‹Die Entwicklung von 0 bis 21 Jahren unter dem Gesichtspunkt der Ich-Entwicklung› wird auf der Grundlage der anthroposophischen Menschenkunde in den folgenden sieben Tagen unser Thema sein und es gilt für mich, dabei den Spagat zwischen der europäischen und der asiatischen Kultur im Blick zu haben. Kleine Einheiten von Biografiearbeit, die mir leider nur zu einem gewissen Grade durch die Übersetzung zugänglich werden, zeigen spätestens in der Pubertät deutliche Unterschiede auf. Während die Gefühle und Bedürfnisse den unseren sehr ähnlich sind, bringt ein Aus- bzw. Nichtausleben der Pubertät die Diskrepanzen ans Licht.
Die meisten der koreanischen Kolleginnen und Kollegen haben ihre Pubertätszeit in der Diktatur, die noch bis vor 20 Jahren in Südkorea herrschte, erlebt. Trotz des politischen Wandels gibt es auch heute noch strenge gesellschaftliche Restriktionen für pubertäre Ausschreitungen. So wird jeglicher Drogenkonsum rechtlich verfolgt. Bildung und Leistung stehen im Vordergrund des aufblühenden Industrie- und Wirtschaftsstaates. Das koreanische Schulsystem gehört zu einem der rigidesten der Welt. Die Schüler verbringen durchschnittlich etwa doppelt so viele Stunden auf den Schulbänken wie in deutschen Schulen. Dazu kommt ein Wettbewerbslernen, das viele Schüler zwingt, am Abend eine zweite Schule zu besuchen. Alleine in Seoul nehmen sich täglich 37 Schüler das Leben, weil sie diesen Leistungsdruck nicht mehr aushalten. Die wichtigste Freizeitbeschäftigung der Jugendlichen ist, sich in riesigen Computerspielhallen zu treffen, oft die einzige Möglichkeit, Freunde zu sehen.
Mit Verwunderung und Andacht zugleich nehme ich die große Freundlichkeit und eine Scheuheit wahr, die mit Verehrung der Lehrerin gegenüber gepaart ist. Doch mit jedem gemeinsam verbrachten Tag, an dem wir zu der Menschenkunde auch methodisch-didaktisch zum ersten Jahrsiebt arbeiten, wächst die Vertrautheit und Nähe zwischen uns. Als ich an einem Abendvortrag eines koreanischen Kollegen zum Thema Reinkarnation und Karma aus der Sicht der asiatischen Philosophie teilnehme, fühle ich mich den koreanischen Kolleginnen und Kollegen zunehmend verbunden. Ich höre über die fünf Elemente und aus dem Konfuzianismus und möchte auch von ihnen lernen.
Am letzten Seminarabend darf ich Zeuge einer unerwarteten Wandlung werden: Der traditionelle koreanische Drachentanz vertreibt alle Scheu und hervor treten lauter Individualitäten, die mit freudiger Kraft zum Tanz einladen und darüber hinaus ganz persönliche künstlerische Einlagen zum Besten geben. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt so viel Freude und Ausgelassenheit erleben durfte? Vielleicht in jüngeren Jahren!?
Entlang der Demarkationslinie
Am nächsten Tag heißt es Abschiednehmen und als Dankeschön wandern viele kleine Geschenke in Form von südkoreanischen Handarbeiten in meinem Koffer mit nach Europa. Darunter auch ein besonderes Geschenk der Seminarleitung, das ich gleich am nächsten Morgen in Seoul einlöse: ein Besuch des Waffenstillstandsortes Panmunjeom, der 55 Kilometer von Seoul unmittelbar auf der Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea liegt, sowie der Demilitarisierten Zone (DMZ) mit dem Camp Bonifas am Rand dieses zwei Kilometer breiten Streifens, der sich von West nach Ost über 240 Kilometer entlang der Demarkationslinie hinzieht. Dieser Ort ist nur mit Sondergenehmigung und einer organisierten Reisegesellschaft zu erreichen. Ein Privileg, das den Süd- und Nordkoreanern versagt bleibt. Vielleicht ist es genau dieser Umstand, der es mir ermöglicht, die Friedenszone kennenzulernen, denn für die südkoreanischen Kollegen scheint es ein Ort zu sein, der sie mit Stolz und Wehmut zugleich erfüllt.
Pünktlich um 8.30 Uhr fährt der Bus Richtung Imjingak, am Injun-Fluss gelegen, in Seoul ab. Alle persönlichen Daten wurden zuvor registriert, eine Verhaltensanleitung für das Betreten der Demilitarisierten Zone und ein Umhängeschild, mit entsprechendem Vermerk versehen, werden uns Besuchern mit auf den Weg gegeben. Die junge Reiseführerin unterstreicht mit Ernst die aufgestellten Verhaltensregeln, welche besonders für das Camp Bonifas gelten. Mit etwas beklommenem Gefühl sitze ich in dem mit Gardinen verzierten ältlichen Bus auf meinem Platz gleich hinter dem Fahrer. Ich spüre, dass ich als ehemalige Westdeutsche etwas mit den Südkoreanern gemeinsam habe. Mein Körpergedächtnis meldet sich in Form von Magenweh, und plötzlich verstehe ich meine Anspannung. Ich sitze als Dreizehnjährige mit meiner Großmutter im Zug in die Ostzone (ehemalige ddr), um meine dortigen Verwandten zu besuchen. Volkspolizisten kontrollieren mit scharfem Blick und zackigem Schritt unsere Pässe. «Haben Sie Westgeld, Bücher oder Sonstiges in Ihrem Gepäck?», erklingt eine drohende Stimme wie aus ferner Zeit in meinem Ohr. 1969 hatte meine Mutter für ihre Schwester Westgeld in die Folie einer Nivea-Dose ‹vergraben› und sie in meinen Koffer gelegt. Ich fühle, dass die bedrohliche Situation von damals wieder in mir aktiviert wird.
Bereits ab Seoul sehen wir eine Stacheldrahtsicherung mit Militärposten am Han-Fluss, die dem Schutz vor einer nordkoreanischen Invasion dienen soll. Nach anderthalbstündiger Busfahrt kommen wir in dem amerikanischen Militärstützpunkt Camp Bonifas an. Panzer und Panzersperren sind überall sichtbar. Unsere Pässe werden genauestens kontrolliert und wir müssen unter strenger Führung des jungen amerikanischen Soldaten Mister Pudder in ein UN-Militärfahrzeug wechseln, das uns nach einer Einweisung und einem erschütternden Dokumentarfilm über den Koreakrieg zum Freiheitshaus fährt.
Menschen an der Grenze
In der Joint Security Area, dem innersten Kern der demilitarisierten Zone, treffen wir auf nord- und südkoreanische Soldaten. Diese stehen direkt auf der Grenze zwischen Nord- und Südkorea, was für uns besonders daran deutlich wird, dass wir eine Treppe besteigen, auf welcher an der einen Seite die nordkoreanischen Wachposten und auf der anderen Seite die südkoreanischen Wachposten stehen. Wir werden angehalten, nur auf der südkoreanischen Seite zu gehen. Für mich unvorstellbar, dass diese Szene bitterer Ernst und keine Attraktion für uns Touristen ist. Ich blicke in das Antlitz junger Nordkoreaner, versteinerte Miene, gestraffte Haltung mit nach innen geballten Fäusten. Welcher Mensch verbirgt sich wohl dahinter? Welche Sehnsüchte, welche Ziele im Leben? Über die Treppe gelangen wir zu den Blauen Baracken, wo am 27. Juli 1953 das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde. Da es jedoch bisher keinen Friedensvertrag gibt, befinden sich Süd- und Nordkorea offiziell noch immer im Kriegszustand. Wenige Augenblicke später stehe ich an einem für Korea wichtigen politischen Ort: dem Verhandlungstisch auf der Grenze zwischen Nord- und Südkorea! Hier ist es den Touristen für einen kurzen Moment erlaubt, sich auf die nordkoreanische Seite für ein Foto zu einem Soldaten zu stellen. Welch ein geschichtsträchtiger Moment! Denn vor der Blauen Baracke kam es zu einer ersten Annäherung des nordkoreanischen Präsidenten Kim Jong Un und des südkoreanischen Präsidenten Moon Jae-In, indem sie sich die Hände reichten. Ein erster Schritt – nein Handschlag auf dem Weg zum Frieden? In der Folge trafen sich Kim Jong Un und Moon Jae-In am 23. April 2018 in Südkorea. Es war das erste Mal, dass ein nordkoreanisches Staatsoberhaupt südkoreanisches Gebiet betrat. Man sprach in einer Pressekonferenz über Denuklearisierung und bessere Kommunikation zwischen beiden Staaten. Kim bestätigte hier jedoch noch nicht den Abbau des Atomwaffenarsenals.
Wenig später trafen sich am 12. Juni 2018 US-Präsident Donald Trump und Kim Jong Un im Rahmen des USA-Nordkorea-Gipfels in Singapur. Bei dem Gipfeltreffen einigten sich die beiden Staatsoberhäupter auf eine Erklärung, in der Nordkorea und die USA sich unter anderem verpflichteten, neue Beziehungen zueinander aufzubauen. Nordkorea soll auf eine vollständige Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel hinarbeiten. Die USA verpflichteten sich zu Sicherheitsgarantien für Nordkorea. Darüber hinaus wurde vereinbart, die Beziehungen zwischen Nordkorea und den USA sowie Südkorea zu stärken und weiter einen ‹anhaltenden und stabilen› Frieden zwischen den Nationen zu etablieren.
Beim Rückgang zum UN-Bus halte ich vor den Blauen Baracken noch einmal inne, schließe die Augen und bete für Frieden und Vereinigung in diesem Land. Erinnerungen steigen dabei auf: 1989 – Mauerfall in Berlin. Tausende von Menschen liegen sich weinend in den Armen. Nach Jahrzehnten sehe ich meine Verwandten wieder. Ich freue mich, ihnen ‹ihre alte Heimat› zeigen zu können. Doch nach anfänglicher Freude wich diese einem introvertierten Blick und ich ahnte die bange Frage: Wie soll es jetzt weitergehen? Wie wird es werden? Wo gehören wir hin? Fremdheit in der Vertrautheit machte sich breit.
Invasionstunnel und wartende Züge
Der Militärbus bringt uns wieder zu unserem Reisebus, mit dem wir zum dritten Invasionstunnel gefahren werden. Er ist einer von vier Stollen, durch den Nordkorea Truppen und Artillerie in den Bruderstaat Südkorea zu schleusen gedachte. Der dritte Invasionstunnel ist 1635 Meter lang, 2 Meter hoch und 2 Meter breit. Pro Stunde hätten rund 30 000 schwer bewaffnete Soldaten in Südkorea eindringen können, heißt es. Wenige Augenblicke später werde ich Teil eines Touristenstroms, in dem die Menschen am Anfang des Tunnels, mit einem Schutzhelm ausgestattet, wie in einer Herde in das Erdinnere eindringen. Gebeugt gehe ich naiverweise mit, nicht ahnend, welche Gefühle mich darin ereilen werden. Verstärkt durch die in Einbuchtungen platzierten lebensgroßen nordkoreanischen Wachssoldaten, entsteht in mir ein Nachbild des zuvor gesehenen Films über den Koreakrieg, das mich vehement umkehren lässt. Ich stapfe erleichtert und selbstbestimmt gegen den Strom zurück in die ‹Freiheit›.
Unsere letzte Station ist der südkoreanische hypermoderne Bahnhof Dorasan, gleich an der Grenze zu Nordkorea. Die Halle mit ihren Fahrkartenschaltern und Hinweisen zu den Gleisen füllt sich jedoch nur, wenn Touristen hereinströmen, nachdem sie einen Blick über den Stacheldraht nach Nordkorea geworfen haben.
Die nötigen Schienen liegen bereits, Brücken sind gebaut, aber noch sind die Schranken geschlossen. Trotzdem macht sich allmählich selbst in diesem bisher so hochgerüsteten und entsprechend strukturschwachen Grenzgebiet Hoffnung breit. Schon jetzt fährt drei Mal täglich ein Zug von Seoul bis zu diesem toten Ende – und kehrt wieder um, ohne Fahrgäste! Ganz optimistisch heißt er Tongil – Vereinigung. Und der einsame Bahnhof an der Grenze nennt sich offiziell Internationaler Bahnhof Dorasan. Denn eines Tages sollen hier die Züge von Seoul über Nordkoreas Hauptstadt Pjöngjang mit der Trans Eurasian Railway bis nach Paris rollen.
Gelangt man gegen eine kleine Gebühr auf die Bahnhofsplattform, sieht man am nördlichen Ende einen Wachsoldaten, während am Südende ein Geschenk Joachim Gaucks steht. Er brachte bei einem Staatsbesuch ein Stück Berliner Mauer mit, um daran zu erinnern, dass Wiedervereinigung möglich ist. Vielleicht wird es also irgendwann Wirklichkeit, dass ich in Frankfurt in einen Hochgeschwindigkeitszug steige und in Seoul oder gar in Pjöngjang aussteige, weil es dann auch dort ein Seminar für Waldorfpädagogik geben wird. Wer weiß! Vonseiten Südkoreas ist jedenfalls alles dafür vorbereitet. Südkoreas Präsident schwebt allerdings zurzeit eher eine ‹nordostasiatische Eisenbahngemeinschaft› vor, die irgendwann Japan, China, Russland, die Mongolei und auch Südkoreas Alliierten USA in einem Bund zusammenbringen könnte.
Mein Herz hat verstanden
Angefüllt mit koreanischer Geschichte, kehre ich am Abend zurück nach Seoul in mein Hotelzimmer im 16. Stockwerk. Nur noch wenige Stunden bis zum Abflug nach Deutschland liegen vor mir. Ich lasse den Blick auf die Skyline von Seoul auf mich wirken. Etwas in mir hat sich verändert. Ich bin zu einem kleinen Teil von Korea geworden. Mein Herz hat verstanden! Eigentlich will ich am nächsten Morgen mit dem Bus zum Flughafen fahren, doch plötzlich stehen Eun Kyung und Yeon Ok unerwartet in der Eingangshalle, um mich persönlich nach Incheon zurückzubringen. Hat der gestrige Tag unsere Beziehung verändert? Die Herzen haben reden gelernt, denn der gemeinsamen Sprache sind wir noch nicht mächtig!
Kleiner geschichtlicher Exkurs
Korea war über 35 Jahre die Kolonie Japans, bevor es nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 unabhängig wurde. Aber nur ein paar Jahre später, 1948, teilten die Sowjetunion und die USA das Land in Südkorea (Republik Korea) und Nordkorea (Demokratische Volksrepublik Korea). Zwei Jahre später griff Nordkorea den Süden während des Koreakriegs (1950–1953) an, welcher die Teilung noch weiter vertiefte. Später arbeiteten die Länder an einer friedvollen Wiedervereinigung, die jedoch bis heute nicht erreicht ist.
Titelbild: DMZ Südkorea, dconvertini, flickr.com, CC