Anthroposophische Forschung, wie man neue Fähigkeiten an technischen Geräten entwickelt.
Selbsterkenntnis wurzelt in Welterkenntnis; Welterkenntnis sprießt aus Selbsterkenntnis. Das ist das Motto Rudolf Steiners. Wir fragen: Was ist das Wesen des Bildschirms, auf den wir jeden Tag am Computer, am Handy oder am Fernsehen schauen? Was ist das Gegenstück im Menschen zum Bildschirm? Was ist das Wesen dieses Gegenstücks im Menschen? Man könnte erwidern, dass der Bildschirm etwas bloß Materielles sei und mit den Menschen, also dem Lebendigen, nichts zu tun habe. Demnach hätte die Technologie keine Beziehung mehr zum Menschen. Der Bildschirm ist ein materieller Schirm, aber er vermittelt als Medium immaterielle Bilder, weil diese Bilder keinen physischen Raum besitzen, sich verändern können und durch das Materielle etwas Wesentliches offenbaren. Die Frage nach dem Gegenstück ist schwierig zu beantworten, weil der Mensch die Bilder ‹träumend› wahrnimmt. Es wäre einfacher zu fragen, was im Menschen das Gegenstück der Kamera repräsentiert und die perspektivischen Bilder herstellt.
Die Kamera und das Auge
Die Idee der Kamera geht auf die Renaissance, also auf die Perspektive zurück. Damals wachte die geistige Individualität, zum Beispiel bei Dürer, bis zu einer gewissen Stufe auf und vermochte die Perspektive zu entdecken, weil ein von innen nach außen projiziertes Zentrum, nämlich ein Fluchtpunkt, zuerst vorausgesetzt werden musste. Je tiefer die Forscher in den Perspektivraum eintauchten, desto offensichtlicher wurde es für sie, dass das Auge, zumindest im Sinne der physischen Funktion, der Konvexlinse gleicht.
Als im 19. Jahrhundert die Kamera entstand, wurde prinzipiell erfasst, dass der fotografische Film der lichtempfindlichen Netzhaut an der Rückwand des Augapfels entsprach. Deshalb ist die Kamera eine bewusste Nachahmung des menschlichen Auges. Die Entwicklung der Kamera löste bei den Malern anfänglich eine Identitätskrise aus. Es entstand vielerorts ein Ringen mit der Selbstverleugnung, waren die Maler sich doch bewusst, dass die Kamera nach physischen Gesetzen funktioniert und nur durch diese Gesetze technisch Bilder erzeugen kann, was gerade das Gegenteil zu ihrem Umgang mit den seelischen Gesetzen und dem seelischen Raum bedeutete. Genauer gesagt seien die physischen Gesetze beziehungsweise der Perspektivraum nur der reduzierte Sonderfall des Seelischen. Nach der Entstehung der Kamera verließen die Maler die Nachahmung der Natur und konzentrierten sich fortan auf das Seelische, zum Beispiel Picasso oder Matisse.
Durch die Materialisierung des Auges, also eines Teils der Menschen, befreite sich die Seele der Maler von der der Kamera ähnlichen unbewussten körperlichen Funktion und stieg zu einer höheren Bewusstseinsstufe auf. Der Materialismus wies auf eine materialisierte Formfestigung eines Teils des Menschen hin, vom Körper zum Nervensystem und dann zum Gehirn. Der physisch funktionierende Teil des Menschen wird vom Körper abgesondert und in ein selbständiges Ding umgewandelt. Da steht dieses künstliche, leblose Ding dem Menschen gegenüber. Eine physische Absonderung zwischen Menschenkörper und dem materialisierten Ding wird geschaffen, obwohl sie das gleiche physische Prinzip teilen. Dies ruft im Menschen ein Körperbewusstsein hervor. Durch dieses Bewusstsein setzt sich die Menschenseele vom körperlichen Teil, also von physischen Gesetzen, gewissermaßen ab und wendet sich zum Seelischen und weiter dem Geistigen zu. Geisteswissenschaftlich ist diese Einsicht in den Materialismus wesentlich, weil sie ihm einen wahren Sinn verleiht. Kann das der Bildschirm auch?
Vom Bild zur Bildserie
Die Kamera produziert normalerweise die auf dem Perspektivraum beruhenden Bilder. Diese nacheinander folgenden Bilder könnten sich als eine Bildserie zusammensetzen, nämlich als Video oder Film. Gleichermaßen erzeugt die Netzhaut fortwährende Bilder und deshalb kann sie als ein Stück Filmbildschirm betrachtet werden. Dennoch ist der Bildschirm nicht nur darauf beschränkt. Er kann auch auf andere Weise geschaffene Bilder erzeugen, die sich von physischen Gesetzen entfernen und eher mit dem Seelischen zu tun haben. Noch wichtiger ist, dass sich oft etwas Unsichtbares in der Bildserie verbirgt und dahinter gezielt dominiert.
Ein innerer Vorstellungsprojektor als ein Stück Bildschirm
Von dieser Analyse her kann unsere Netzhaut als ein einfachster Bildschirm angesehen werden, weil sie von physischen Gesetzen beziehungsweise dem Perspektivraum beschränkt wird. In ähnlicher Weise gilt dies auch für den fotografischen Film der Kamera. Im Vergleich dazu ist der allgemeine Bildschirm im inhaltlichen Sinne vom Physischen gelöst und nähert sich dem Seelischen an. Wann sind wir im Alltag von unserem Körper im gewissen Sinne getrennt? Im Schlaf und Traum. Beim Träumen schaut man sich trotz der geschlossenen Augen die innerlichen Bilder an, welche oft farblos, manchmal auch farbig sind. Die Bilder folgen nicht mehr der Perspektive und lösen sich von den physischen Gesetzen, deshalb müssen sich die Augen immer bewegen, um die erscheinenden Objekte anzusehen. Tatsächlich beruht der Traum auf einer menschlichen Vorstellungsfähigkeit, die uns auch tagsüber dient. Die Eindrücke von außen verinnerlichen wir in der Seele als Bilder, welche sich irgendwann ins Formlose auflösen. Wenn wir uns daran erneut erinnern, verdichten wir dieses Aufgelöste wieder in Bilder und holen sie aus der Erinnerung hervor. Dieser innerliche Vorstellungsprojektor funktioniert stumm und spurlos. Aber beim Träumen wird er aktiv und spürbar. Er arbeitet nicht mehr nur als ein Dienst, sondern verbindet sich stärker mit dem hinter ihm stehenden Jenseitigen als mit dem Physischen im Tagesbewusstsein.
Was ist das Wesen des Bildschirms, auf den wir jeden Tag am Computer, am Handy oder am Fernsehen schauen? Was ist das Gegenstück im Menschen zum Bildschirm?
Der Vorstellungsprojektor hat Folgendes gemeinsam mit dem Bildschirm: Beide scheinen durch das Materielle als immaterielle Bilder; beide drücken mit den Bildern etwas Unsichtbares und Wesentliches aus; die Bilder von beiden haben eine lose Verbindung mit dem Physischen und eine enge mit dem Seelischen und Geistigen.
Aus diesen Gründen kann der innere Vorstellungsprojektor des Menschen als das Gegenstück zum Bildschirm gelten.
Die Menschheit nahm sich sehr lange Zeit, die Luft zu entdecken, welche die Chinesen ‹das leere Gas› nennen, weil sie darin immer so unbewusst lebte wie ein Fisch im ihn umgebenden Wasser. Die erste Entdeckung dieses inneren Vorstellungsprojektors ist Schopenhauer zu verdanken, da er im Buch ‹Die Welt als Wille und Vorstellung› das Wesen der Vorstellung klar beobachtet hat. Aber die Dynamik der Mächte hinter dem Vorstellungsprojektor wurde später durch Freud und Jung enthüllt. Freud hatte daran aus der tierischen Perspektive geforscht, Jung dagegen, der ‹geistige Sohn› des Ersteren, mehr aus der geistigen Perspektive.
Drei große Bildschirme
Von alters her verwendet die Menschheit den inneren Bildschirm so, wie man atmet, ohne von der physischen Existenz der Luft zu wissen, von Sehern in den alten Kulturen zu Regisseuren in der Gegenwart. Hierbei sollten drei große ‹Bildschirme› erwähnt werden, nämlich die von Homer, Josef, dem Sohn Jakobs, und Freud.
Homer ist blind und muss blind sein, um die ‹sinnlichen Verschmutzungen› des Irdischen zu vermeiden. Er sieht die prächtigen Bilder der griechischen Mythen, wodurch sich das Wesentliche in seiner Seele unmittelbar offenbart, und verwandelt sie in die Dichtung. Josef ist sich klar bewusst, dass der Traum eine Ausdrucksform der Wirklichkeit ist. Deshalb kann er die verborgene Wahrheit sowohl hinter seinen als auch anderer Träumen enträtseln und die Zukunft prophezeien. Freud glaubte, dass sich eine ganze unbewusste und unentdeckte Welt hinter dem Vorstellungsprojektor verbirgt, worin Sex und Gewalt die zwei herrschenden Machtströmungen sind. In diesem Sinne ist er der Sohn Schopenhauers, der die Willenswelt als ‹Ding an sich› entdeckt hat.
Neue bewusste Imagination
In unserem Zeitalter wird der Bildschirm ein im Alltag unerlässliches Ding. Leider verfremdet und verkümmert er das Leben, sogar seit Babyzeit, wie die Kamera unsere Augen vergraut und der Kopfhörer unsere Ohren abstumpft. Trotzdem sollten wir nicht auf die Materialisierung bzw. Digitalisierung verzichten, sondern einen neuen Zugang dazu finden, damit sie uns als ein Befreiungsmittel zum Geistigen dienen kann.
Die Kamera bietet uns ein wunderbares Beispiel. Zu Beginn ihres Aufkommens fühlten sich die damaligen Maler stark herausgefordert. Durch das eigene Fragen und das Verlieren der Identität befreiten sich ihre Augen, insbesondere angeregt durch Cézanne, von dem Perspektivraum und der passiven Qualität des physischen Lichtes. Damit erneuerte sich die Malerei und interessanterweise erzeugte die Kamera eine neue Art von Kunst: die Fotografie.
Der Bildschirm schafft auch eine Art von Kunst, nämlich die Filmkunst. Dabei entspricht der Filmregisseur dem Fotografen. Aber wer entspricht dem Maler? Dies ist bis jetzt noch nicht ins Bewusstsein gehoben worden.
Oder fragen wir: Der Maler schafft Sinnbilder, wer schafft Sinnbildschirme? Im Altertum soll es der Seher gewesen sein. Aber ‹der Seher› im gegenwärtigen Sinne, nämlich der ‹Imaginationspraktiker›, ist in diesem Materialisierungs- und Digitalisierungszeitalter einer großen Schwierigkeit und Herausforderung ausgesetzt, weil das Abstrahieren und das Imaginieren zwei sich in gegenseitigen Richtungen bewegende Handlungen der Menschen sind. Er sollte, wie der Maler, mithilfe des digitalen Bildschirms seinen eigenen inneren Bildschirm spiegeln, erkennen und läutern, um sich aus dem Physischen durch das Körperbewusstsein abzulösen und sich dann erneut nach dem Geistigen auszurichten. Dadurch wird ein neuer Homer in der Zukunft geboren werden, aber er muss nicht mehr blind sein.