Die Allgemeine Anthroposophische Sektion und die Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz laden zusammen zur Michaelitagung ‹Die Gestalt des Menschheitsrepräsentanten und das Evangelium der Erkenntnis› dieses Wochenende am 26. und 27. September ins Goetheanum ein.
Als das Goetheanum im September 1920 eröffnet wurde, fanden die Eurythmie-Aufführungen und die Vorträge vor der leer stehenden kleinen Kuppel statt – die Plastik des Menschheitsrepräsentanten war noch nicht fertiggestellt, befand sich noch nicht im Bau. «Es ist noch Zeit, es braucht nicht zu eilen», sagte Edith Maryon zu Assja Turgenieff.(1) In einer Erinnerungsdarstellung schrieb Turgenieff, dass Rudolf Steiner 1920 nicht der Auffassung gewesen sei, die Zeit für eine wirkliche Einweihung des Baues – mit Aufstellung der Plastik – sei schon ‹reif›.(2) In einem weiteren Manuskript hielt sie fest: «Von Edith Maryon haben wir bei den Arbeiten an der Gruppe gehört, dass Dr. Steiner sie […] noch nicht aufstellen wollte: Die Zeit, die Mitgliedschaft seien dazu noch nicht geeignet; man müsse warten […], wiederholte sie seine Worte.»(3) Zweieinviertel Jahre nach der Eröffnung, als der Doppelkuppelbau bis zu den Betonfundamenten niederbrannte, war die über neun Meter hohe Holzplastik mit Christus, Ahriman und Luzifer noch immer nicht in der kleinen Kuppel – und überlebte daher das Inferno. Über die Zielsetzung der Plastik hatte Rudolf Steiner ab dem Frühjahr 1915 in Weltkriegsvorträgen zu den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft gesprochen. Die Gruppe bringe zum Vorschein, «was im intimsten und auch im tiefsten Sinne aus unserer Bewegung heraus unsere Seelen fühlen sollen»(4); es gehe um eine Neugestaltung und um ein Neuverständnis des ‹Christus-Impulses› und seiner Beziehung zum ‹Ahriman-Impuls› und ‹Luzifer-Impuls›, den Impulsen des Bösen. «Luzifer-Kräfte und Ahriman-Kräfte durchwalten die Welt, und der Mensch muss durch sein Christus-Bewusstsein werden wie ein Wesen, das wie in einem Boote sitzt, das zwar immer in den Stürmen, die Luzifer und Ahriman erregen, schaukeln muss, das aber seinen Weg findet durch das Meer, dessen lebendige Substanz aus Luzifer und Ahriman besteht, durch das aber der Mensch sein Christus-Boot dennoch hindurchtreibt.»(5) Der Mensch könne mithilfe des paulinischen «Nicht ich, sondern der Christus in mir» fest in sich stehen, obwohl er zum Bösen nach beiden Seiten neige oder «ausschlage»; dies gelte es in Selbst- und Welterkenntnis zu verstehen, im handelnden Geschehen der Geschichte und im eigenen Leben. Man müsse lernen, den Mächten des Guten und Bösen erkennend gegenüberzustehen, und ein inneres Gleichgewicht erreichen. Daher bilde die plastische «Christus-Gruppe» (6) auch die «Mittelpunktsschöpfung des Goetheanum»(7). Der «durchchristete Mensch»(8) sei für die Zukunft der Menschheit am allernotwendigsten – und vor ihm, der «Auferstehungsgestalt» des Menschen, inmitten der Widersachermächte, sollten sich alle Veranstaltungen im Goetheanum zutragen. «Das bist du.»(9) Es gehe dabei nicht nur um Fragen der persönlichen Entwicklung, sondern um eine Arbeit für die Welt im Sinne des wirksamen Christus-Impulses, eine Arbeit, für die sich die Menschen im Goetheanum einzeln und in Gemeinschaft vorbereiten und stärken sollten, eine Arbeit im Sinne des «höchsten Menschlichen» (10) in einer abgründigen, von Zerstörungskräften bestimmten Zeit. Über den Christus Jesus hatte Rudolf Steiner am eindringlichsten in seinen vorausgehenden Vorträgen aus dem sogenannten «Fünften Evangelium» – dem «Evangelium der Erkenntnis» – im unmittelbaren Anschluss an die Grundsteinlegung des Dornacher Baues (20. September 1913) zu den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft gesprochen. Zusammen mit seinen Darstellungen über die sogenannten «kosmischen Vorstufen des Mysteriums von Golgatha» und das Schicksal der «nathanischen Seele» (ab Dezember 1913) hatten sie den spirituellen Gesamthintergrund dessen aufgezeigt, worum es Rudolf Steiner mit dem Zivilisationsimpuls der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft für eine neue Kultur der «erkennenden Selbstlosigkeit» ging (11) – «darin liegt […] die Zukunft aller Liebestaten, die durch die Erdenmenschheit geschehen können.» (12) «Der Christus-Impuls ist Kraft und Leben, die moralische Kraft, die die Menschen durchzieht. Aber diese moralische Kraft muss verstanden werden.» (13)
Die Michaelitagung ‹Die Gestalt des Mensch-heitsrepräsentanten und das Evangelium der Erkenntnis› am 26. und 27. September, die die Allgemeine Anthroposophische Sektion zusammen mit der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz 100 Jahre nach der Goetheanumeröffnung veranstaltet, hat mit diesen Zusammenhängen und den Herausforderungen der Gegenwart zu tun.
Die Vorträge und Kurzreferate werden aufgezeichnet. Die Tonaufnahmen stehen bei Anfrage zur Verfügung. Kontaktperson: Ioana Viscrianu, allgemeinesektion@goetheanum.ch
(1) Assja Turgenieff, Erinnerungen an Rudolf Steiner und die Arbeit am ersten Goetheanum. Dornach 1972, S. 99.
(2) Dies., Aus der Arbeit an der Gruppe. Manuskript (1928). RStA, S. 7.
(3) Dies., Was ist mit dem Goetheanumbau geschehen? Basel 1957, S. 26
(4) GA 159, S. 223.
(5) Ebd., S. 66.
(6) GA 342, S. 36.
(7) GA 184, S. 314.
(8) GA 272, S. 100.
(9) GA 194, S. 188.
(10) GA 159, S. 248.
(11) Vgl. Peter Selg, Rudolf Steiner und die Vorträge über das Fünfte Evangelium. Dornach 2010; Die Leiden der nathanischen Seele. Anthroposophische Christologie am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Arlesheim 2014; Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft und die Michal-Schule. Dornach 2014.
(12) GA 152, S. 152.
(13) GA 130, S. 118.