Pragma statt Dogma

Volkert Engelsman gründete 1990 mit seinem Studienfreund Willem van Wijk den europäischen Marktführer im Import von Bio-Obst Eosta und zählt zu den Pionieren im neuen Wirtschaften. Ein Gespräch mit dem Unternehmer und Visionär anlässlich der Tagung ‹Was zählt?› der World Goetheanum Association. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Das Gesicht hinter dem Produkt zeigen, so nennt ihr eure Anstrengung um Transparenz. Was heißt das?

Wir wissen es alle, vergessen es aber dennoch ständig: Wenn wir heute im Supermarkt einkaufen, dann sind die Lebensmittel deshalb so billig, weil versteckte Kosten durch Schadstoffemissionen, Abwasser, den Einsatz von Pestiziden, Lohndumping oder die Folgekosten für unser Gesundheitssystem durch die Behandlung ernährungsbedingter Krankheiten nicht darin enthalten sind. Auf 4,8 Milliarden Dollar jährlich schätzt die Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen diese externalisierten Kosten. Sie entstehen bei der Herstellung und dem Vertrieb der Waren, werden aber nicht bezahlt, scheinbar nicht bezahlt. Denn die Umweltzerstörung, die sozialen Unruhen, die als Folge der abgewälzten Kosten entstehen, kommen zurück. Wir zahlen es zum Beispiel durch höhere Krankenversicherungsbeiträge, denn mehr als die Hälfte aller Krankheiten rühren von schlechten Lebensmitteln. Wie aber ist es heute: Je weniger Verantwortung ein landwirtschaftlicher Betrieb für Mensch und Umwelt übernimmt, je gedankenloser er mit Ressourcen umgeht, desto größer der scheinbare ‹Gewinn›, den er abwirft. Es geht also darum, den echten, den korrekten Preis zu zeigen. Dann sehen wir, dass ökologisch hergestellte Produkte ökonomisch weitaus sinnvoller sind.

Was hat euch auf diesem Weg überrascht?

Das enorme Echo in der Gesellschaft. In der gleichen Zeit, als wir begannen, bei Ananas oder Mangos den ökologischen und sozialen Fußabdruck, die wirklichen Kosten, sichtbar zu machen, stieg auch das Interesse dafür in der Gesellschaft, in der Finanzwelt, in den Arbeitskreisen der nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen und bei den Konsumentinnen und Konsumenten. Das bestärkte uns natürlich, zusammen mit diesen Partnern die Biografie der Nahrungsmittel und die Nachhaltigkeitsleistungen unserer Erzeuger und Produzentinnen immer ausführlicher zu erfassen und in einen neuen Wirtschaftsansatz umzusetzen.

Wo musst du als Importeur deine Partner vor zu viel Transparenz schützen?

Selbstverständlich fragt nachhaltige Entwicklung nach einem gewissen Maß an Vertraulichkeit. Offen sein über Entwicklung heißt auch, dich verwundbar aufstellen. Da muss man verantwortungsvoll damit umgehen. ‹Dream – Dance – Deliver› geben, auf Deutsch: Entwickeln – Tanzen – Handeln. Um einen sinnvollen Fußabdruck auf der Erde zu hinterlassen (deliver), ist ein transparentes Handeln notwendig. Voraussetzung dafür ist eine intimere Ebene: der Dance-Bereich. Hier geht es darum, aufmerksam zu werden für die Magie der Begegnung, für das cokreative Potenzial der Zusammenarbeit. Voraussetzung dafür ist eine vielleicht noch intimere Ebene, die wir Dream, oder Differentiate nennen, wo es um den individuellen Entwicklungsweg des Einzelnen geht. Da geht es um die Frage nach dem Sinn, dem inneren Motiv. Auf dieser dritten Ebene gibt es den subtilen Unterschied zwischen Information über jemanden und Schicksalskenntnis. Bei Transparenz geht es natürlich um das Letztere. Kenne ich die individuellen Herausforderungen meines Gegenübers und habe ich Respekt für seinen Werdegang und seine Nöte? Diese Fragen stellen sich hier. Hier kommen Entwicklungsmotiv, Transparenz und Brüderlichkeit dann zusammen.

Wir wissen es alle, vergessen es aber dennoch ständig: Wenn wir heute im Supermarkt einkaufen, dann sind die Lebensmittel deshalb so billig, weil versteckte Kosten durch Schadstoffemissionen, Abwasser, den Einsatz von Pestiziden, Lohndumping oder die Folgekosten für unser Gesundheitssystem nicht darin enthalten sind.

Du sprichst von der DNA des Profitdenkens. Wie überwinden wir sie?

Es geht nicht darum, Profitdenken zu überwinden, sondern es zu adeln. Wir reden immer über die drei Leitbegriffe ‹planet – people – profit›. Darin steckt ein ähnlicher Dreischritt: Wir wollen einen sinnvollen, vertretbaren Fußabdruck hinterlassen (planet). Das gelingt uns, wenn wir verantwortungsvoll, offen und empathisch miteinander umgehen (people). Und das wird möglich, wenn wir Gewinn (profit) neu denken, also einschließlich Profit für People und Planet. Es ist eine Sinngebungsfrage, wie du Gewinn definierst. Die heutige Gewinndefinition steht durch unsere ökologischen und sozialen Krisen schwer unter Druck. Nicht nachhaltige Unternehmen sind ein Investitionsrisiko für die Finanzwelt. Solange Mensch und Erde verlieren, kann von Gewinn im wahren Sinne auch nicht die Rede sein. Die neue Normalität ist, dass du mit Gewinn nur wegkommst, wenn People und Planet ebenfalls gewinnen, mindestens nicht darunter leiden. Das Prinzip der Brüderlichkeit beinhaltet: Ich kann erst glücklich sein, wenn auch meine Umgebung glücklich ist. Profit 2.0 ist, wenn auch mein Bruder, auch die Erde und nicht nur die nächste Generation, sondern auch die nächste Inkarnation dabei gewinnen und auf der Sonnenseite stehen. Deshalb ist die neue Wirtschaft auch nicht ohne einen Karmabegriff zu verstehen. Das, was du den anderen Menschen antust, das fügst du dir selber zu. Dieses Grundprinzip muss in die neue Wirtschaft hinein und liefert uns eine komplett neue Definition von Kosten und damit von Gewinn. Das ist nicht nur eine philosophische Frage, wie sie lange in der Dreigliederungsbewegung vorgedacht wurde, sondern jetzt geschieht es. In der Natural and Social Capital Coalition, bei den Großbanken, die Klimastresstests durchführen, bei S & P Global die Nachhaltigkeit in den Risikobewertungen mitnehmen, und bei vielen Unternehmen und den Wirtschaftsprüfern. Das Templer Motto ‹Non nobis domine› mit seinen drei Tugenden Gehorsam, Keuschheit, Armut taucht heute überall verstärkt auf, in neuer Form: Gehorsam betrifft heute unser Verhältnis gegenüber dem eigenen höheren Selbst. Können wir auf unsere innere Stimme hören und ihr folgen? Können wir wahrnehmen und befolgen, was wir uns selbst vorgeburtlich vorgenommen haben? Dann, was heißt Keuschheit heute? Da geht es um soziale Hygiene, um die cokreative Zusammenarbeit, die wir brauchen, um etwas hinzukriegen, das größer ist als die Summe der Teile. Schließlich die Armut: Armut heute bedeutet, dass ich mir erst dann etwas aneignen kann, wenn meine Mitmenschen versorgt sind. Wir kennen das von der gemeinsamen Wanderung: Die Kehle ist trocken und trotzdem, das Wasser schmeckt am besten, wenn man die Flasche erst kreisen lässt und als Letzter den Schluck nimmt. Die ‹living wage›-Diskussion, die jetzt überall von Unternehmen verstärkt aufgegriffen wird, ist dafür ein gutes Beispiel. Wir können lange über People und Planet sprechen, also über Mitmenschlichkeit und Nachhaltigkeit. Solange wir aber die Profitfrage nicht stellen, bleibt es Gerede.

Wenn ich also beginne, mich für die Wertschöpfungskette zu interessieren und wie es den Produzenten dabei geht, wie verändert sich dann das eigene Leben?

Man sagt oft, dass die Nachhaltigkeit zwischen den Ohren anfange. Das verstehe ich so, dass es in dir, in deinem Innern beginnt, dort verändert sich die Welt, da sitzt der Hebel. Wenn in dir sich die Frage meldet und du fängst an, anzuklopfen bei deinem höheren Selbst, dann ändert sich dein Verhältnis auf der People-Ebene, also zu deinen Mitmenschen, und damit ändern sich deine Taten und deren Folgen für die ganze Erde. Dieses Prinzip verläuft allerdings nicht direkt, sondern mittelbar. Es kommt auf überraschenden Wegen zu dir zurück. Wenn du über ein Thema oder über einen Menschen meditierst, dann ändert sich deine Begegnungsfähigkeit in den nächsten Tagen oder Wochen, du bekommst andere Intuitionen, andere Ideen, dir wird anderes wichtig. Es ändert sich der Sinn. Wir treffen andere Leute und werden sensibler für die Begegnungen und dadurch öffnet sich eine Tür, sodass etwas Neues, etwas Substanzielles passieren kann. Wenn du länger mit der Frage nach zum Beispiel einer neuen Gewinndefinition lebst, dann begegnest du wie von selbst Menschen und Instanzen, mit denen du neue Kräfte mobilisieren kannst. Das ist eine spirituelle Technik, die ins Curriculum der Business Schools hineinmüsste. Zum Glück hört man immer öfter: «Nachhaltigkeit ist ja schön und gut, aber was tun wir in den Schulen, in den akademischen Ausbildungen?» Was tun wir für die Selbstschulung, dass der innere Führer der Persönlichkeit aufsteht und die Probleme von morgen in den Blick nimmt und wir nicht nur über die Probleme von gestern nachdenken? Kürzer: Wie werden wir zukunftsfähig? Da finde ich den Dreischritt von Claus-Otto Scharmer hilfreich, dass es eine ökologische, eine soziale und eine spirituelle Kluft gibt, die uns von der Natur, vom anderen Menschen und schließlich von uns selbst trennt. Wenn du durch die Augenwimpern guckst, siehst du übrigens unser Dreigestirn Dream Dance Deliver. Natürlich müssen wir schon auch ein bisschen selbstkritisch zugeben, dass Al Gore bereits 1992 das Buch veröffentlichte: ‹Earth in the Balance›, also kurz nachdem die Mauer fiel. Er gründete mit Michael Gorbatschov Green Cross, eine Initiative für eine neue Ökologie. 195 Länder schlossen sich im IPCC zusammen, der dann 1990 mit dem ersten und 1995 dem zweiten dramatischen Bericht aufrüttelte. In Rio fand bereits 1992 der erste United Nations Earth Summit statt. Es passierte damals sehr viel. Al Gore beschrieb in seinem Buch, dass der Kommunismus nun zwar tot sei, aber das nicht bedeutet, dass der Kapitalismus lebe. Solange wir solche ökologischen Probleme haben, schauen wir eigentlich ständig in einen Spiegel, der uns konfrontiere mit der Beschränkung unseres Denkens, unseres Menschsein. Da klopfe etwas an unsere Türe, was Al Gore schon im Vorwort als ‹spirituelle Herausforderung der Neuzeit› bezeichnete.

Gewinn ist erst Gewinn, wenn auch mein Bruder, auch die Erde und auch nächste Generationen, meine nächste Inkarnation, dabei gewinnen und auf der Sonnenseite stehen. Deshalb ist die neue Wirtschaft auch nicht ohne einen Karmabegriff zu verstehen.

Mit der Coronapandemie klopft nun der Holzhammer?

Eindeutig. Auch hier kann man drei Vertiefungsschichten unterscheiden. Äußerlich geht es um Masken, 1,5 Meter, IC-Kapazität und Krisenmanagement. Eine Schicht tiefer lohnt es sich zu fragen, was diese Atemschwierigkeit der Erkrankung für ein Bild aufruft. Wir sprechen von Social Distancing. Besser wäre wohl der Begriff Physical Distancing. Corona fordert uns auf, uns um das Schicksal unseres Mitmenschen zu kümmern. «I can´t breathe», dieser Ruf ging ja um die Erde. Mit der Black-Lives-Matter-Bewegung, den Gelbwesten in Frankreich, den Aufständen jetzt in Belarus, dem Widerstand gegen die zunehmende Wohlstandskluft, da geschieht auf der People-Ebene, der Ebene des Sozialen gerade sehr viel. Wir haben lange darüber gesprochen, dass es (auch) wirtschaftlich nicht länger haltbar ist, gesellschaftliche Kosten zu externalisieren, abzuwälzen auf die nächste Generation. Corona zeigt uns, dass nicht nur die nächste, sondern auch die heutige Generation, wir, unmittelbar selbst betroffen sind. Nicht nur im Sozialen, sondern auch in der Natur ist Diversität Voraussetzung für Vitalität. Wenn wir Diversität unter Druck setzen mit Monokultur, industrialisierter Landwirtschaft und Massentierhaltung, dann ist es kein Wunder, dass wir der Natur damit die Fähigkeit nehmen, solche Viren in Schach zu halten. Die dritte Schicht entschliesst des Pudels Kern: Das Problem fängt natürlich bei uns selbst an. Corona ist ein Aufwach­erlebnis. Jetzt sind wir dran. Die vertrauten Stützen des Daseins tragen nicht mehr. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen, unser Leben, unser Wirtschaften komplett neu zu denken. Zum Glück ist diese Pandemie nicht so schnell vorbei. Die ganze Welt hat nach dem ersten Lockdown doch auf den Sommer und Herbst geschaut mit dem Gefühl: «Dann ist alles wieder ok!» Das trat aber nicht ein und wird vorläufig auch nicht eintreten. Wir sind jetzt gefragt, etwas zu tun, was wir noch nie getan haben, wir müssen unsere Art, Wirtschaft zu treiben, komplett neu denken. Das heißt auch, dass wir unser steuerliches System neu denken müssen, sodass ein gleiches Spielfeld im Markt entsteht, wo der Verschmutzer seinen Schaden zahlt und nicht wegkommt mit einem Konkurrenzvorteil, weil er Kosten abwälzt auf die Zukunft. Die kürzlich veröffentlichte BCG-Studie über die externalisierten Kosten der deutschen Landwirtschaft bietet dafür vielversprechende Anhaltspunkte.

Abbildungen: Eosta spart durch ‹natürliches Labeling› von Obst und Gemüse über 22 Millionen Plativerpackungen ein. Dabei entfernt ein hochauflösender Laser Pigmente auf der äußersten Schalenschicht von Mango, Kürbis und Co. und hinterlässt eine dauerhafte, gut sichtbare Markierung. Fotos: Eosta

Von Wolfgang Schad gibt es den Gedanken, dass die Jugend mit Schlafmangel und Drogenkonsum ihre Lebenskraft zurückdränge, ihr Astralleib schlage auf ihren Ätherleib und dabei würde sie im Zurückdrängen der Lebenskräfte wach und bewusst. So geschehe es im 20. Jahrhundert auch mit der Gesellschaft. Kürzer: Werden wir erwachsen?

Ein schönes Bild – genau so ist es. Unsere verantwortungslose Art zu leben hat enorme Folgen für die Vitalität, die Lebenskraft der Erde, dieses großen Organismus, aber es hilft, um aufzuwachen, um erwachsen zu werden. Die Zyniker haben immer schon gesagt, wir Menschen lernen nicht durch Weisheit, sondern durch Schmerz. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass uns die Verantwortung in die Glieder fährt, neues Leadership aufsteht, um eine neue Normalität vorzubereiten. Wenn man sieht, wie viele hervorragende Initiativen es überall gibt, in der Nachhaltigkeitsbewegung, in der Finanzwelt, in der Europäischen Green- Deal-Politik, wie selbstverständlich Nachhaltigkeit in der dna der Millennials steckt dann kann man nur schlussfolgern, dass dieses neue Leben, dieses neue Handeln schon längst vorbereitet, vorgeburtlich vorbereitet ist, da habe ich die größten Hoffnungen auf die nächsten Jahre und sehe überall große Bewegung und Möglichkeiten.

Jetzt am Wochenende startet hier am Goetheanum die World Goetheanum Association ihr Treffen, wo du auch einen Vortrag hältst. Was versprichst du dir von dieser Initiative?

Das ist eine schöne, vielversprechende Initiative, um eine Plattform zu schaffen, eine Begegnung, um solche Fragen zu besprechen. Das war dringend notwendig, weil die Anthroposophische Gesellschaft, zu der ich mich rechne, dabei ist, sich abzukoppeln von der Aktualität, vom Zeitgeist und zu viel in Theorie und Idee sich verstrickte und dabei in Schönheit zu sterben droht. Wenn man etwas tun will, wenn man sich verbunden fühlt mit dem Zeitgeist, dann muss man absteigen und sich nasse Füße holen und schmutzige Hände – da führt kein Weg daran vorbei. Da stirbt die Anthroposophie in die Gegenwart hinein und kommt daraus wieder hervor, wird neu geboren, mit neuen Ideen und einer anderen Sprache. Das erfordert Mut. Sie ist dann anders, als sie uns vertraut ist aus dem 20. Jahrhundert, und schöpft doch aus dem gleichen Impuls, ja ist dem Impuls vielleicht näher. Das ist kein linearer Prozess, das ist eine Umstülpung und dafür ist das Treffen jetzt eine gute Initiative, um von der Basis aus, sozusagen, gegenseitig zu befragen, womit befasst du dich gerade, welche Lösungsansätze siehst du und vor allem, was tust du. Wir müssen vom Dogma weg zum Pragma. Dogma fragt: «Was sind wir gewöhnt.» Pragma fragt: «Worum geht es, was zählt, wo beginnt das Herz zu schlagen, wo legst du los?» Wenn wir an den Puls der Zeit wollen, müssen wir Dogma durch Pragma ersetzen.


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