Die Demonstrationen von ‹Black Lives Matter› weltweit verweisen auf die systematische Struktur des Rassismus. Erfahrungsbericht über ein Symptom, dessen Ursachen viel tiefer liegen.
Auf Augenhöhe verwandeln
Es ist Anfang Juni. Zufällig schaue ich, eine weiße Deutsche zu Besuch in San Francisco, aus dem Fenster, als gerade wieder ein Protest gegen rassistisch motivierte Polizeigewalt auf der Straße vorbeizieht. Anlässlich der Flut an publik gewordenen Fällen, darunter die Morde an George Floyd, Breonna Taylor und Tony McDade, gehört dieser Anblick hier gerade zur Tagesordnung. «Sollen wir mitlaufen?», frage ich meinen Freund. Wir schnappen unsere Corona-Masken und unsere Ausweise, falls wir Schwierigkeiten mit der Polizei bekommen. Mir ist flau im Magen. Ich meide normalerweise Menschenmengen und bin einer dieser vorsichtigen, feinfühligen Menschen, denen Aufgaben und Elend unserer Zeit oft zu viel werden und die sich dann aus Überforderung und Hilflosigkeit eher zurückziehen. Doch das ist heute nicht mehr praktikabel, schon gar nicht akzeptabel. Die ‹Black Lives Matter›-Bewegung ist in aller Munde, auf jedem Nachrichtenkanal und in allen sozialen Medien. Man muss sich äußern, still sein heißt Rassist sein oder so gut wie. Also poste auch ich auf Instagram ein schwarzes, leeres Bild für den ‹black out tuesday›, lese plötzlich Bücher über Rassismus, schaue Filme, die das Thema behandeln, lese Artikel mit den Statistiken und reposte informatives Material. Vor allem die jüngere, veränderungsbedürftige Generation beteiligt sich vermehrt am ‹Lautwerden› gegen den Rassismus weltweit. So also laufen auch wir, zwei Weiße unterschiedlicher Nationalität aus der ökonomisch bevorzugten Schicht, nun bei einer Demonstration gegen hautfarbenbedingte Diskriminierung mit.
Symptome
Die hier angeklagte Ungerechtigkeit ist so offensichtlich, wie sie im amerikanischen System selbstverständlich ist. Die afroamerikanische Bevölkerung in den USA verdient im Durchschnitt weniger als Weiße, die Wahrscheinlichkeit, bei Kontakt mit der Polizei mit Gewalt konfrontiert zu werden, ist höher und sie kommen weitaus häufiger ins Gefängnis, mit härteren Strafen. Ihre systematische Benachteiligung ist statistisch messbar, in allen Bereichen der Gesellschaft: in Ökonomie, Bildung, Gesundheitswesen, Justiz, Lebensqualität. Auf dieser Demonstration geht es aber insbesondere darum, die systematische Natur des Rassismus anzuklagen, der die Strukturen der Polizei und der Strafjustiz in den USA durchdringt.
Und auch wenn ich es für wichtig empfinde, für eine Sache aktiv Farbe zu bekennen und mich öffentlich zu äußern, hält mich dennoch das Gefühl im Griff, dass meine reine Anwesenheit hier natürlich nicht viel verändern wird. Mit all dem Posten und Demonstrieren, das gerade stattfindet, wird zwar eine wichtige Sache lautstark publik gemacht, aber trotz aller Bemühungen ist die Wurzel der Ungerechtigkeit nicht gepackt. Ja es ist beschämend, dass 2020 nach wie vor Rassismus und Antisemitismus akute Themen sind. Dennoch ist die Hautfarbe nicht der Ursprung des Rassismus. Sie ist sein Symptom.
Rassismus betrifft nicht nur die USA oder schwarze Menschen. Deutsche oder europäische Ausländerfeindlichkeit beruht nicht einfach auf übertriebenem Nationalstolz. Diskriminierung von Homo-, Bi-, Trans- und Intersexuellen entsteht nicht einfach nur aus der Angst vor Andersartigem. Sexuelle Nötigung von Frauen oder der Missbrauch an Kindern und Minderjährigen ist nicht bloß durch ein gesellschaftliches Hinnehmen dieser vermeintlichen ‹Kavaliersdelikte› entstanden. Moderne Sklavenarbeit, Menschenhandel, Zwangsehe, Umweltverschmutzung, die Liste ließe sich noch endlos weiterführen. Die Ursache all dieser Themen ist viel allumfassender, als man es auf den ersten Blick wahrnehmen möchte: Sie liegt im Machtmissbrauch der Stärkeren an den Schwächeren, motiviert durch den eigenen Gewinn.
Polizeisystem
Auf der Demonstration ist die Stimmung viel harmloser, als wir bisher im Fernsehen gesehen hatten. Aber wir befinden uns gerade auch im wohlhabenden Zentrum von San Francisco. Die räumlichen Resultate einer 400 Jahre langen Stigmatisierung der schwarzen Bevölkerung zeigen sich auch an den Orten der Proteste. Hier im Zentrum einer der teuersten Städte der USA sind die Protestierenden überwiegend unter 40, mit weißer oder gemischter Hautfarbe. Die meisten von ihnen sind dort, weil sie ihre Solidarität zeigen und eine Veränderung des Systems mit friedlichem Protest bewirken wollen. Ganz vereinzelt nimmt man aber auch solche wahr, die mit aggressiver Energie den friedlichen Protest zum Eskalieren bringen könnten. Die Möglichkeit eines Amoklaufs oder Attentats kommt mir plötzlich ins Bewusstsein, denn dies hier wäre die ideale Gelegenheit für jegliche extremistische Gemütsverfassung. Das wäre noch nicht einmal ungewöhnlich, denn die Normalität von Waffen und tödlicher Gewalt ist ein weiteres, grundlegendes Problem der USA. Durch deren Alltäglichkeit werden Polizeibeamte noch mehr darauf trainiert, ihre Schusswaffe auch selbstverständlich zu benutzen. Das Ganze nennt sich dann ‹warrior cop mentality› und wird in Fortbildungsseminaren vermittelt, wie Craig Atkinsons Kurzfilm ‹The Police Trainer Who Teaches Cops to Kill› von 2017 eindrucksvoll veranschaulicht.
Die Polizisten hier scheinen jedoch eine strikte Deeskalationsanordnung zu befolgen, der Großteil der Demonstranten ist ja auch weiß. Einer der Krawallmacher schreit mit wüsten Gesten die Polizisten an, die uns rechts und links flankieren. Sie sind zahlenmäßig fast überlegen und gehen mit keiner Regung auf die Beschimpfungen ein. Ab und an sieht man einen der Polizisten die Faust in Solidarität erheben. Andernorts sah die Auseinandersetzung zwischen Polizei und Protestierenden auch ganz anders aus. ‹Defund the Police› brüllt einer der Protestierenden und der Chorus folgt.
Rassismus ist nichts anderes als das Symptom einer massiven sozialen Ungleichheit, auf der auch unser derzeitiges Gesellschafts- und Wirtschaftssystem basiert und von welcher beide enorm profitieren.
Was die Proteste nach der Ermordung George Floyds in jedem Fall bewirkt haben, ist eine neue und hartnäckigere Diskussion darum, wie das Polizeisystem in den USA zu verändern ist. Eine Reform wurde in den USA schon mehrmals versucht, stellte sich aber als ungemein schwierig heraus. Spezifische Strategien wie die Aufnahme von Deeskalationsrichtlinien und die Pflicht, am Körper Kameras zu tragen, konnten das Fortbestehen rassistisch motivierter Polizeigewalt nicht verhindern. Während die staatliche Finanzierung der Polizei weiterhin erhöht wird, finden gleichzeitig Kürzungen der Ausgaben für wichtige soziale Dienste statt. Die Aufgabenbereiche der Polizei erweitern sich, während gerade die dafür ausgebildeten Ämter nicht genügend finanziert werden. Und mithilfe der Gewerkschaften wird jedem Polizeibeamten auch nach einer Entlassung eine Rente ausgezahlt, wodurch die Härte der Sanktionen abhängig vom Einfluss der Gewerkschaften wird. Laut Ed Chung, einem Korrespondenten des Center for American Progress, ist eine nachhaltige Polizeireform daher nur möglich, wenn sie das gesamte Polizeiwesen betrifft, insbesondere mit einer sinnvollen Rechenschaftspflicht für Beamte und Polizeibehörden.
Veränderungswillig
George Floyd war nicht der erste Schwarze, der brutal und ungerecht behandelt wurde, aber dieser willkürliche Mord brachte das Fass erneut zum Überlaufen, vielleicht weil durch die psychologisch belastende Situation der Pandemie mehr Empfindsamkeit erwacht ist, die zum Aufbegehren gegen die Schwachstellen im System anspornte.
Trotz unseres ausgeprägten Gerechtigkeitssinnes ist die Ungerechtigkeit gegenüber der Minderheit, dem Schwächeren, dem Unterlegenen, der Menschheit regelrecht ins Gehirn eingebrannt. Diese Ungerechtigkeit wird wieder und wieder praktiziert, in jedem Kulturkreis und in jedem Jahrhundert, denn sie bedeutet Profit, Gewinn und Sicherheit für die Machthabenden. Rassismus ist nichts anderes als das Symptom einer massiven sozialen Ungleichheit, auf der auch unser derzeitiges Gesellschafts- und Wirtschaftssystem basiert und von welcher beide enorm profitieren. Darauf aufmerksam zu machen, dass vor allem Menschen mit dunkler Hautfarbe auf den unteren Stufen dieser ungleichen Gesellschaftsstruktur stehen, und zwar seit Jahrhunderten, ist unerlässlich. Aber ebenso wichtig ist die Frage, warum unsere Gesellschaft sich überhaupt mit einem System zufriedengibt, in dem eine dermaßen ausufernde Ungleichheit möglich ist.
Solange der Mensch nicht bereit ist, seinen eigenen Anteil an der Veränderung zu tragen, wird es keine wirkliche Gerechtigkeit geben. So wie wir eine schmerzhafte Krankheit nicht mithilfe eines Schmerzmittels heilen, sind auch unsere Proteste nur eine zeitweilige Betäubung des Ursprungs eines Problems.
Wert und Preis
Wenn etwas verbilligt ist, zahlt jemand oder etwas anderes den wahren Preis. Dass größerer Wohlstand auf der einen Seite größere Armut auf einer anderen Seite bedeuten kann, ist bekannt. Geld, Rohstoffe, Zeit, sie alle sind begrenzt. Kein Protest, keine Krise oder Umstrukturierung kann daran etwas ändern. Was aber geändert werden kann und muss, ist das grundlegende System, dem unser Denken und Handeln folgt. Solange wir alle unser Verständnis und unsere Definition von Gewinn nicht an das anpassen, was wir als annehmbaren Weltzustand erleben wollen, wird keine Veränderung des Status quo stattfinden. Es werden nur immer neue Symptome der Machtungleichheit auftreten und neue Schlagzeilen über Machtmissbrauch in den Medien zur Bedeutungsleere plattgetreten. Wenn wir nur den Rassismus in seiner Symptomatik bedenken, so leben wir dennoch in einer Gesellschaft, wo es nach wie vor für jeden Gewinner einen Verlierer geben muss, der unterbezahlt, ausgebeutet, kriminalisiert und marginalisiert wird. Das soll nicht heißen, dass die klare Positionierung gegen ein Unrecht wie den Rassismus nicht wichtig sei. Ebenso wenig ist der Sozialismus die Lösung aller Probleme. Aber der nachhaltige Kampf für Gerechtigkeit bedingt gleichzeitig ein Eingeständnis der eigenen Beteiligung an diesem systematischen Unrecht und eine entsprechende Veränderung der eigenen Verhaltensweisen. Erst dann entwickeln wir die Bereitschaft, das bisherige System grundlegend zu verändern, und erst dann wird der systematische Machtmissbrauch immer weniger möglich.