exc-5cf9316865e0a80001f6deab

Wege zum Verständnis der Heilpflanze Mistel

Im Herbst 2018 trafen sich zur Tagung der Naturwissenschaftlichen Sektion ‹Evolving Science› goetheanistische Forschende, um sich über Wege zum Geistigen in der Natur auszutauschen. Was Rudolf Steiner in seinem ‹Grundsteinspruch› als die Fähigkeiten von Geisterinnern, Geistbesinnen und Geisterschauen fordert, das spiegle sich, so im Tagungstext zu lesen, in der tieferen Naturerfahrung im ideellen Zugang, im hier beschriebenen Symbolisieren der Naturerfahrung und schließlich in der Grenzerfahrung, in der das Sinnliche zugunsten eines Höheren verschwindet. Hier geben wir einen breiten Einblick in die Werkstatt der Forschenden.


Die anthroposophische Misteltherapie bei Krebspatienten feiert außerordentliche Erfolge. Deshalb stellt sich die Frage nach dem Wesen der Mistelpflanze, ihrer Verwandlung zum Heilmittel und ihrem Zusammenhang mit der Krebserkrankung. Im anthroposophisch-goetheanistischen Sinne fordert diese Frage dazu auf, Sinneserscheinungen auf dem Felde der Mistel- und Krebsforschung mehr und mehr als Ausdruck einer vielfach differenzierten Welt von schöpferischen Kräften zu erkennen. Rudolf Steiners Leitideen zur Misteltherapie helfen dabei, sich zu orientieren und einen rationalen Umgang mit dieser Wesensfrage zu gewinnen. Im Sinne eines solchen Erkenntnisweges möchte ich hier Erlebnisse und Resultate aus der Arbeit mit der Mistelpflanze, ihrer pharmazeutischen Verarbeitung und ihrer pharmakologischen Prozesse darstellen.

Zwei zueinander polare Erlebnisfelder rahmen meine wissenschaftliche Arbeit im Institut Hiscia des Vereins für Krebsforschung ein: der tätige Umgang mit der Mistel in der freien Natur zur weiteren Verarbeitung im Labor und die Auseinandersetzung mit den publizierten Daten der Mistel am Schreibtisch. Im ersteren Fall begeben wir uns auf Augenhöhe in die lebendige Welt der Mistel, um die ersten Schritte zu ihrer künftigen Verarbeitung einzuleiten. Im letzteren Fall kommt uns eine Ideenwelt entgegen, die sich in mittlerweile 8000 wissenschaftlichen Publikationen niedergeschlagen hat und an die wir selbstverständlich anknüpfen.

Das Wesenhafte zu erfassen, verlangt eine seelische Vertiefung, indem man die Phänomene verinnerlicht. Dazu sollte sich die Seele empfänglich machen für die sinnlichen Erscheinungen und im Sinne Goethes für ihre sittlichen Wirkungen. Wie das folgende Beispiel zeigt, kann eine solche Wirkung als unerwartet heftiges Erlebnis auftreten. Bei einer Mistelernte im kalten Winter zuoberst auf einer unserer schönsten, über 30 Meter hohen Eichen wandte ich nach stundenlangem Abpflücken der Mistelbeeren den Blick unvermittelt aus der grünen Welt der Pflanze hinter mich hinunter in den kahlen Winterwald mit den grau-schwarzen Stämmen und Ästen und auf den Waldboden ohne jedes Grün. Wie aufgeschreckt von dieser toten, erstarrten Welt, floh ich wieder in das lebendige Grün der Mistel zurück. Das Erleben der Prozesse von Tod und Leben ist ein zentrales Thema in meiner Arbeit mit der Mistel geworden.

Warum Holz nützlich ist und Blüten schön sind

Gerade am herbstlich-winterlichen Absterben der Pflanzen wird deutlich, dass Todesprozesse ebenso zu den konstituierenden Faktoren der Pflanze gehören wie die Wachstum vermittelnden Kräfte des Aufbaus. Absterben in der Holzbildung ist ein Vorgang, der als zentripetal verdichtender Prozess Kohlenstoff aus der freien Form der Kohlensäure in den festen Zustand des toten Holzes überführt. Diese sklerotisierende Verwandlung ist verbunden mit Massebildung, die in die Schwere und zur Konservierung der Vergangenheit führt. Von Goethe und Steiner lernen wir, dass dieser Todesprozess mit den aus der Erde ausstrahlenden Kräften, mit der Wurzelbildung zusammenhängt.

Absterben in der Seneszenz der Blüten hingegen ist Ausdruck von aus dem Kosmos einstrahlenden, von Goethe als Spiraltendenz beschriebenen Kräften. In ihrem umgebungs- und lichtorientierten Charakter, im Ausstrahlen von Farbe, Duft und Wärme, in der Auflösung der sich zersetzenden Blüte treten zentrifugale Auflösungsprozesse in Erscheinung, die ausschließlich in der Gegenwart leben. Die Beziehung des Menschen zu diesen zueinander polaren Todesprozessen lässt etwas von ihrem Wesen aufleuchten. Unser Verhältnis zum Holz steht vorwiegend unter dem Aspekt der Nützlichkeit, während Blüten wegen ihrer Schönheit als Schmuck und Freudebringer geschätzt werden. Im Todeshauch, der die Natur im Herbst mächtig erfasst, findet zunächst in der Verfärbung der Laubblätter nochmals so etwas wie ein Aufblühen statt, das tatsächlich mit Farbentwicklung, Wärme freisetzenden Verbrennungsprozessen und Auflösung fester Strukturen verbunden ist. Diese «Aufblühphase» endet mit dem Übergang zum Braunwerden, Sklerotisieren und Zur-Erde-Fallen der Blätter. Was als Ergebnis einstrahlender Spiralkräfte in der Blütenbildung und ausstrahlender Kräfte in der Holz- und Wurzelbildung in der Pflanze räumlich auseinandergehalten ist, tritt in der Blattseneszenz zeitlich nacheinander auf.

Der verborgene Tod in der Mistelpflanze

Die Mistel als immergrüne Pflanze hält sich aus diesem jahreszeitlichen Geschehen heraus. Sie wirft die Blätter in grünem, saftigem und nährstoffreichem Zustand ab. Die Mistelstängel bleiben von grünem, parenchymatischem Gewebe durchsetzt, was ihnen eine gummiartige Konsistenz verleiht. Die Todesprozesse, die in der Holzbildung erscheinen, sind weitgehend unterdrückt. Die Mistel­blüten sind auf vier kleine Schüppchen reduziert, sodass das Absterben in der Blüte kaum in Erscheinung tritt. Der Mistelsamen wird zudem nicht als trockenes Dauerorgan ausgebildet, sondern bleibt grün und saftig im Schleim der Beeren eingebettet. Es ist deutlich, dass die Mistel in ihrem jugendlichen, ja ‹embryonalen› Zustand die Absterbe- und Todesprozesse aus der Gestaltbildung fernhält.

Todesprozesse aber finden wir versteckt in der Mistel auf der Ebene der Substanzbildung. Zwei Gruppen von Giftsubstanzen sind heute gut untersucht und gelten als ‹Hauptwirksubstanzen› der Mistel: Viscotoxine und Mistellektine. Beide Eiweißverbindungen führen zum Absterben von Zellen, sodass sie im direkten Kontakt mit Tumorgewebe antitumoral wirksam sein können. Die Viscotoxine induzieren den Zelltod über eine Zerstörung der Zellmembran an der Peripherie der Zellen. Sie führen zum zentrifugalen Ausströmen des Zellinhaltes und zur Auflösung der Zellen. Die Mistellektine hingegen müssen in die Zellen aufgenommen werden, blockieren danach die Eiweißbildung und induzieren den sogenannten programmierten Zelltod, bei dem die Zellen schrumpfen, die Zellmembran als Grenze zur Umgebung aber bis zuletzt erhalten bleibt. Damit ist deutlich, dass in den kleinen, schwefelreichen Viscotoxinen und den großen, aus mehreren Komponenten zusammengesetzten Mistellektinen zwei polare Todesprozesse einander gegenüberstehen: zentrifugale schnelle Auflösungsprozesse und zentripetal verdichtende, strukturerhaltende Prozesse.

Diese Polarität spiegelt sich in charakteristischer Weise in der Lokalisierung dieser pharmakologisch hoch aktiven Substanzen im Mistelbusch. Die Viscotoxine sind an der Peripherie des Mistelbusches in den Blättern und am höchsten konzentriert in den Blütenknospen angehäuft. Im Senker fehlen sie weitgehend. Polar dazu sind die Mistellektine in der Peripherie nur wenig vorhanden und weisen in einer zentripetalen Geste mit einem Gradienten von zunehmenden Konzentrationen bei zunehmendem Alter der Stängel auf das Zentralorgan des Senkers hin, der als reines Lektinorgan erscheint. Das Zentrum der Mistellektinbildung ist der im Holz des Wirtsbaumes steckende Senker, also der Ort, wo die Wurzelbildung ansetzen sollte. Die zentripetal verdichtenden, erdzugewandten, sklerotisierenden Bildekräfte der Wurzel- und Holzbildung sind in der Mistel aber aus der Gestaltbildung herausgehalten. Sie erscheinen in metamorphosierter Form als Mistellektinprozesse. Am Blütenpol der Mistel zeigen sich die Viscotoxinprozesse in entsprechender Weise als Metamorphose der aus der Gestaltbildung herausgehaltenen Kräfte der zentrifugalen Sprossentfaltung und Blütenbildung.

Lebendig bleiben, wo andere sterben

Sprießen und Blühen sind Prozesse der Pflanzenwelt, die gewöhnlich im aufsteigenden Jahr zu beobachten sind. Die Mistel, in der diese unterdrückt sind, bildet gerade in dieser Zeit aber die Viscotoxine, um im Juni zu ihrem Höhepunkt zu kommen, bevor nach der Sommersonnenwende die Viscotoxinbildung aufhört. Polar dazu erreichen die Mistellektine ihre höchsten Konzentrationen im Dezember. In dieser Prägung des Sommerzustandes durch die Viscotoxine und des Winterzustandes durch die Mistellek­tine zeigt sich eine Polarität der Sommer- und der Wintermistel, die in der Herstellung der anthroposophischen Mistelpräparate berücksichtigt wird. Sommer- und Wintermistelextrakt ergeben erst in ihrer Mischung das wirksame Heilmittel zur Behandlung von Krebspatienten.

So zeigt sich der Zusammenhang zwischen zurückgehaltener zentrifugaler Spross- und Blütenentfaltung und Viscotoxinbildung und zwischen zentripetaler Wurzel- und Holzbildung und Mistellektinprozessen in dreifacher Weise: durch die Verwandtschaft der Prozesscharakteristika, durch die lokale Koinzidenz in der Verteilung im Mistelbusch und durch das zeitliche Auftreten der Prozesse im Jahreslauf. Dieses kompensatorische Prinzip von Gestalt- und Substanzbildung macht uns darauf aufmerksam, dass das Zurücktreten von differenzierenden Prozessen in der Gestaltbildung von Pflanzen Hinweis auf ein entsprechendes besonderes pharmakologisches Potenzial sein kann.

Der aufmerksame Beobachter bemerkt die zentrale Rolle der Antitendenz der Mistel in ihrer doppelten Ausprägung sowohl in Bezug auf den gewöhnlichen Lauf der Pflanzenbildung als auch im damit zusammenhängenden Auftreten der polaren Giftprozesse. Rudolf Steiner hat schon früh auf das polare Wesen der Mistel aufmerksam gemacht, indem er unter anderem die Rolle der Mistel im Baldur-Mythos aus der ‹Edda› schilderte. Darin wird sie als Werkzeug in den Händen der beiden Widersachermächte in widrige Handlungen eingebunden, die zur Auslösung der Götterdämmerung geführt haben. Diese unselige Tat wird im letzten Moment durch den Gott Widar ‹den Schweigsamen› aufgefangen und in heilende Kräfte verwandelt: «und die Erde ward wieder grün und schön». Diese Tat Widars kann als Bild für die Verwandlung der Mistel zum Heilmittel durch den pharmazeutischen Prozess gelten.


Textredaktion von Ruth Richter und Wolfgang Held

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare