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Wenn das Wesen im Spiel ist

Es gehörte zu meinen interessantesten Schulerfahrungen: Eine Deutschlehrerin unterbrach den Mathematikunterricht, und als sie die Türe wieder geschlossen hatte, wollte der Mathematiklehrer die begonnene Rechnung fortsetzen, besann sich dann aber und sagte: Jetzt erzähle ich euch von dieser Kollegin.


Mit einem Schlag hatte er alle Aufmerksamkeit der Klasse auf sich. Interessanter, als zu hören, was ein Mensch von sich sagt, ist, wenn man erfährt, wie ein anderer in ihm lebt. Denn damit zeigt sich ein ganzer Reichtum: von jenem anderen, aber auch von dem, der über ihn berichtet, und von der Beziehung der beiden. Ein Kosmos des Sozialen öffnet sich. Vielleicht lässt Goethe deshalb Faust, als er so von Beziehung spricht, sogleich den Himmel finden: «Wie alles sich zum Ganzen webt – Eins in dem andern wirkt und lebt! – Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen – Und sich die goldnen Eimer reichen!»

Wie kann denn nun eins im andern leben? Am einfachsten durch die Nachahmung. Da sieht man einen Handgriff, hört eine Wendung, baut sie ins eigene Gefüge ein. Freier ist die Anregung. Hier reicht ein Wort, manchmal eine Blickrichtung des anderen und daraus wird ein Impuls für eigene, vielleicht ganz andere Gedanken oder Taten. In beiden Fällen nimmt man sich einen Teil, als wär der andere ein Steinbruch. Martin Buber, der Philosoph des ‹Du›, sagt, solang man Eigenschaften des anderen im Auge hat, ist er oder sie ein ‹Es› und kein ‹Du›. Wann wird es zum Du? Wenn nicht das Äußere kopiert wird oder zu etwas impulsiert, sondern das Innere. Dann sammelt man so viel wie möglich vom anderen, dann ist kein Teil genug. Wenn man den anderen interpretiert, zählt dessen ganzes Wesen. So wie die Interpretation tiefer dringt als die Nachahmung, weil die Interpretation nur etwas schaffen kann, wenn sie dem Wesen des anderen begegnet und ihm daraufhin einen neuen Ausdruck verleihen will, so gibt es auch für die Anregung eine Innenseite: die Berührung. Wie flüchtig und heilig ist es, von einer oder einem anderen berührt zu werden, denn auch hier ist das ganze Wesen im Spiel.


Zum Bild: Philip Nelson, Eurythmievorhang nach einer Skizze von Rudolf Steiner

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