Es gibt noch ein Jubiläum, das in diesem Jahr gefeiert werden könnte. Aber es scheint wenig im Bewusstsein zu sein. Wie hat sich der Geist von Woodstock in unsere heutige Zeit hinein verwandelt? Gibt es ihn noch als eine gesellschaftsrelevante Bewegung, als eine geistige Haltung?
Es war ein ruhiger Samstagnachmittag, an dem ich mit meinem zehnjährigen Sohn im Wohnzimmer saß und mit ihm malen wollte. Daneben der Rechner mit dem offenen YouTube-Fenster. Das musikaffine Kind wollte mir allen möglichen krassen Deutsch-Rap und Techno zeigen, den es von seinem großen Bruder gelegentlich mitbekommt. Um etwas friedlicher zu werden, entschied ich mich, nach ‹Hippieliedern› zu suchen, und ließ die Playlist, die mir angeboten wurde, mit den ‹101 weltweit bekanntesten Hippieliedern› durchlaufen. Als Erstes: John Lennons ‹Imagine› und die Frage meines Sohnes, was denn ein Hippie sei.
Wir schauten in ein Video und er sah die im kollektiven Bewusstsein abgespeicherten Bilder von Woodstock: Man richtet sich auf dem Festivalgelände ein, Menschen baden im Schlamm und lachen, Mütter in Batiktüchern tragen ihre windellosen Babys über die Wiese. Alles irgendwie friedlich und einander zugewandt. Hat man sich auf dem Festival geprügelt, weil Menschen unterschiedlicher Meinung waren?
Für gewöhnlich malt mein Sohn Schießszenen mit vielen Waffen. Er hat Angst, dass Diebe nachts in unser Haus kommen und ihn entführen oder uns was stehlen. Er hat Angst, dass die Luft nicht mehr gut sein wird, wenn er erwachsen ist, und er dann sterben muss, dass die Sonne explodiert, dass man sich verteidigen muss, dass man nicht zu Fremden freundlich sein kann, weil man nicht weiß, ob sie gut oder böse sind. Aber irgendetwas an der Musik, an den Bildern bewog ihn, plötzlich Hippiebusse zu malen, mit Einhorn auf dem Dach oder mit einer Blume. Dann bat mein Sohn mich, ‹Hippielieder 2019› einzugeben. Da kam nicht viel.
Verletzlich sein
Es gab eine Nacktheit in der Hippiezeit, die ich nicht nur körperlich auffasse. Es gab die Bereitschaft, verletzlich zu sein – Blumen und Kinder sind leicht zu zertrampeln –, und den Glauben oder die Hoffnung, dass durch Liebe die Welt zu retten sei. Lassen wir die Nebenerscheinungen des Drogenkonsums beiseite, war die geistige Haltung zur Welt und zum Mitmenschen weich, nicht hart, offen, nicht verschlossen, kategorienlos, nicht einsortierend. Ja, ich gebe zu, es war wohl eine eingeschworene Gemeinde, die sich Hippies nannte. Es gab auch genügend Ausschreitungen, wie der Song ‹Ohio› von Crosby, Stills, Nash and Young in der Playlist verdeutlichte. Und ja, sicherlich wollte man sich abgrenzen gegen die rigiden Traditionen der Elterngenerationen. Aber dahinter ist der Ruf nach einer friedlichen Welt zu hören. Das Musikvideo endet mit einem großen Peace-Zeichen. Auf sein Bild hat mein Sohn Waffen gemalt, die durchgestrichen sind.
Ich habe mich gefragt, ob Greta weich ist, ein Blumenkind? Sie ist laut, ihr Protest hart und kompromisslos. Sie zeigt die Verletzlichkeit der Erde in kriegerischer Art. Vielleicht ist das heute notwendig. Vielleicht macht es Sinn, der Wirtschaft, der Politik, AfD-Wählern, dem Nachbarn entgegenzutreten und zu schreien: «So nicht!» Vielleicht sind wir so weit gekommen, dass es mit ‹Kuschelkurs› nicht mehr geht und diese Zeiten vorbei sind. Obwohl die Zahlen von ‹New-Age-Dienstleistern› ja beständig steigen. Damit meine ich Meditationskurse, kinesiologische Lebensberatungen, Prana-Heiler, Esoterikliteratur zum Selbstlernen, Yoga für Gestresste usw. Sie alle bewegen sich auf einem Privatgebiet, wo der Einzelne versucht, für sich selbst zu sorgen und sich weiterzuentwickeln.
Nackte Tatsachen
Letzte Woche wurde ein psychisch kranker Klient von mir nachts nackt aufgegriffen und in die Psychiatrie gebracht, wo ihn bei seinem Ausbruchversuch vier Polizisten verprügelten und dann auf einer Fixierbahre festschnallten, während er, immer noch nackt, schrie und nichts begriff und sich gegen die Diagnose ‹paranoide Schizophrenie› wehrte. Sein Helfer in seinem Kopf: Satan und irgendwelche diesbezüglichen Handzeichen, die er beständig vollführte. Nackt: seelisch und geistig. Was ist wahr, was ist falsch? Wo ist das Ich, das diese Fragen beantworten kann? Ein Einzelschicksal?
Die Welt ist hart geworden. Auch vieldeutig, beweglich, komplex, unsicher, zerbrechlich und bedroht. Vielleicht müssen wir uns selbst abringen, konsequenter zu sein für unsere eigene Entwicklung und für die der Welt. Aber was sind die Antworten, wie die Wege? Vielleicht wäre es auch schon eine Revolution, zu atmen und friedlich zu sein mit sich selbst und den Mitmenschen. Vielleicht könnte man dem Strom des Wahnsinns, der Verwirrung, der Angst, der Unsicherheit entgegentreten und Blumen pflanzen, Räume schaffen, in denen sich Menschen zusammenfinden, nicht um zu streiten, zu debattieren, anzuklagen, zu polemisieren, zu rechtfertigen oder zu verteidigen, zu erklären. Vielleicht wäre zusammen schweigen gut, um irgendwelchen ‹Widersachermächten› Pausenräume zu verschaffen und uns Nachklangräume.
Gibt es so etwas heutzutage? Ist der Geist von Woodstock noch irgendwo transformiert zu finden? Oder war es eine Randerscheinung zwischen den Weltkriegen und dem digitalen Krieg? Vielleicht noch am ehesten in Bewegungen wie ‹Urban gardening› und solidarischer Landwirtschaft zu finden, scheint ein ‹Heididei› von Liebe und Frieden als gesellschaftliche Kraft oder als Weg nicht zeitkompatibel. Als wäre es nicht cool genug – weil zu nah, zu nackt, zu verletzlich –, zu gestehen, dass man es auch zart braucht, dass alles schon zu gewaltig ist, man dieser Brachialität nicht gewachsen sein möchte, sie auch nicht haben will. Und als könne ‹Flowerpower› nicht ausreichen, um Veränderungen hervorzubringen. Vielleicht ist dem auch so. Ich weiß es nicht. Aber ich möchte erstens lieber, dass mein Sohn Hippiebusse zeichnet und keine Angst vor der Brutalität der Welt hat. Und zweitens erinnert mich diese ‹Flowerpower›-Verletzlichkeit auch an die Ohnmacht, mit der Jesus ans Kreuz gegangen ist. Es hat etwas vom Loslassen und Vertrauen-Lernen-(Müssen), dass es tatsächlich eine geistige Welt gibt. Empfänglich für diese werde ich auch in der Stille, nicht nur im Kampfgeschrei und Aktionismus.
Bild: Johann Bartel