Rückblick nach 30 Jahren: eine Rezension des neuen Buchs des ehemaligen DDR-Dissidenten und Wegbereiters der friedlichen Revolution, Rolf Henrich: ‹Ausbruch aus der Vormundschaft. Erinnerungen›
Rolf Henrich gilt als einer der Wegbereiter der friedlichen Revolution in der DDR. Sein Bestseller ‹Der vormundschaftliche Staat› aus dem Frühjahr des Jahres 1989 kann als ein Brandbeschleuniger der Umsturzbewegung bezeichnet werden. Er war einer der Mitbegründer der Bürgerbewegung ‹Neues Forum›: Die Bürger als Mündel des vormundschaftlichen Staates. Um diese zentrale These entwickelte der Autor eine fundamentale Kritik der Wirklichkeit des Sozialismus und ihrer theoretischen Grundlagen. Am Ende des Buches wies er auf eine Neugestaltung des Staatssozialismus hin, auf der Basis der Dreigliederungsidee von Rudolf Steiner: «Wird der sozialistische Staat in dieser Weise aus dem Geistesleben und der Wirtschaft als eine diesen Verhältnissen wesensfremde Kraft zurückgenommen, so kann der soziale Organismus in diesen beiden Gliedern Zug um Zug eigene Selbstverwaltungen ausbilden.» (S. 278)
In seinem neuen Buch ‹Ausbruch aus der Vormundschaft. Erinnerungen› zieht Henrich eine politische Bilanz seines biografischen Lebens bis zum Jahre 1990. Er beschreibt seine universitäre Ausbildung in Jura, seine Anwaltstätigkeit in Eisenhüttenstadt. Viel vom studentischen Leben in der DDR, Freizeitaktivitäten und vor allem vom politischen Leben in einem vormundschaftlichen Staat wird erlebbar. Einiges ist dem politisch Interessierten durchaus vertraut, doch findet man eine detaillierte Schilderung des sozialen Lebens, die in dieser Form bestechend ist.
In dieser spannend geschriebenen Autobiografie beschreibt Henrich seinen eigenen Wandlungsprozess vom Parteisekretär der sed zum energischen Kritiker des sozialistischen Systems, vor allem der sozialistischen Rechtsauffassung und -praxis in allen Bereichen: Arbeit, Familie, zivile und staatliche Angelegenheiten. Hier spricht ein philosophisch gebildeter Rechtstheoretiker und praktischer Fachmann.
Der Abschnitt ‹Deutschsein in Europa› ragt dabei besonders hervor, da er eine Schlüsselstellung einnimmt und den ‹Anschwellenden Bocksgesang› von Botho Strauß aus dem Jahre 1993 vorwegnimmt. In einem Vortrag vom 19. März 1990 hält Henrich im Nationaltheater von Weimar vor großem Publikum einen programmatischen Vortrag zum Deutschsein in Europa. «Herders staatsphilosophische Aussage, wonach die Pluralität der Nationen das Europas Eigenart charakterisierende Spezifikum sein müsse, erklärte ich zu einer Wegmarke, an der sich jedes Denken über die Zukunft Europas ausrichten müsse. Herders Abneigung gegen jede die nationale Vielfalt nivellierende Ordnung teilte ich uneingeschränkt, denn wohin eine staatlich zentralistisch-bürokratische Konstruktion führt, das hatte unsereiner ja nun wirklich in der gewaltsam zusammengeschweißten Lagerwelt unter Moskaus Aufsicht gelernt. Ich bestand darauf, dass für die jetzt zu leistende staatlich-politische Einheitsstiftung in Einigkeit und Recht und Freiheit eine Rückbesinnung auf die geografische Mitte unverzichtbar sei.» (S. 341) Hier beklagt Henrich, dass viele westdeutsche Intellektuelle mit dieser Mitteleuropaidee fremdelten, sie hatten sich in ihrer Konsumwelt eingenistet und wollten von einem kulturellen Neubeginn nichts wissen.
Henrich ist nicht verbittert oder resigniert. Er plädiert gegenüber der Staatssicherheit, die ihm und vielen anderen Bürgern der DDR gegenüber Unsägliches angerichtet hat, für eine differenzierte Betrachtungsweise. Rache sei ein schlechter Ratgeber: «Aber was hieß Rache in den Neunzigern? Gab es dafür überhaupt Gründe? War der deutsche Herbst nicht ohne Blutvergießen über die Bühne gegangen? ‹Friedliche Revolution› lautete doch die landesweit akzeptierte Losung.» (S. 353)
Henrich hat mit seinen Erinnerungen die Situation in der DDR und vor allem die Wendezeit anschaulich beschrieben und kommentiert. Das Buch ist in kleine Abschnitte eingeteilt und gut lesbar. Es enthält persönliche Anekdoten und brisante politische Informationen. Die politische Entwicklung der DDR wird bis in den Alltag hinein erzählt und politisch klug interpretiert. Henrichs Thesen zum vormundschaftlichen Staat sind Klassiker der Zeitgeschichte.
Literaturempfehlung
Rolf Heinrich, Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus. Hamburg 1989.
Rolf Heinrich, Ausbruch aus der Vormundschaft. Erinnerungen. Berlin 2019
Was ist hier bitte mit ‚Pluralität der Nationen‘ gemeint, ‘Pluralität von Menschen oder Peoples’ oder ‘Pluralität von Staaten’ und wie ist überhaupt bitte das ‚Nationale‘ heute über das Gruppenhafte hinaus neu zu denken? Zielen diese Worte mehr auf die von Herder wohl so verstandene ‚Kulturnation‘ oder auf die ‚Staatsnation‘? In Städten wie Toronto oder Brüssel jedenfalls oder vielen anderen vergleichbaren Orten in der heutigen Welt ist die ‚Pluralität der Nationen‘ – oder sollen wir besser sagen ‘Pluralität des Nationalen’? – mit hunderten Sprachen und Kulturen, eng verwoben auf ein und demselben engstem Raum, eine tägliche Lebenswirklichkeit. In welchem Verhältnis also stehen individuelle kulturelle Identitäten und überkommene ‚Nationalstaaten‘? Steiner: „Vor allem muss man loskommen von der unseligen Verquickung von Staat und Nation und Volk, von jener unseligen Verquickung, die ein Grundcharakteristikum des Wilsonianismus ist, der immer zusammenwirft Staat und Nation und Volk, und sogar Staaten begründen will nach Nationen“ (GA 185a, 78). Angesichts unser aller bitteren Erfahrungen mit ‚völkischer Tollheit‘ (ZB I, 194) und heutiger erneuter identitärer Bemühungen in Europa wie anderswo, sollte die hier gebrauchte Begrifflichkeit, zumal in einer anthroposophischen Zeitschrift, wohl besser näher erläutert werden, um nicht erneut bei diesem gewaltigen Thema missverstanden und missbraucht zu werden!