Es war beinahe ein Bürgerkrieg – der Kampf der Frauen um das Wahlrecht. Weltweite Aufmerksamkeit errang Emily Davison, die sich nach Hungerstreik und Verhaftung bei einem englischen Derby vor das Pferd des Königs warf. Weil die Männer auf den Schlachtfeldern Europas kämpften und starben, übernahmen Frauen eine umfassendere Verantwortung. Nach Kriegsende ließen sie sich nicht mehr entmündigen und durften in Großbritannien und Deutschland 1918 endlich an die Urne.
In Deutschland war es ein besonderer Schicksalsmoment: die Durchsetzung des Wahlrechts für Frauen zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Gründung der Weimarer Republik. Nach dem Vorbild der britischen Suffragetten-Bewegung kämpften Frauenrechtlerinnen seit Mitte des 19. Jahrhunderts für die Emanzipation auf politischer Ebene. Hedwig Dohm forderte bereits 1876 in ihrem Buch ‹Der Frauen Natur und Recht›, Stimmrechtsvereine zu gründen, um sich vorrangig für das Wahlrecht einsetzen zu können. Vor 1800 gab es überhaupt kein Wahlrecht, weder für Männer noch für Frauen. Nach einem Jahrhundert rein männlicher Mitbestimmung forderten im November 1918 rund 50 Frauenorganisationen, die sich zusammengeschlossen hatten, den damaligen Reichskanzler Max von Baden auf, ihnen endlich das Stimmrecht zu gewähren. Daraufhin wurde am 30. November das Reichswahlgesetz erlassen, in dem allen männlichen und weiblichen Personen ab 20 Jahren das passive und aktive Wahlrecht zukam. Die Frauen in den Demokratien Frankreichs und der Schweiz mussten noch lange darauf warten.
In der verfassunggebenden Nationalversammlung der Weimarer Republik am 19. Januar 1919 kandidierten 308 Frauen. 37 von ihnen wurden in das vorläufige Parlament gewählt. Am 14. August 1919, als die Verfassung endgültig bestätigt wurde, waren 9 Prozent der 423 Abgeordneten weiblich. Das ist ein Wert, der erst 1983 (!) wieder erreicht wurde, als die Grünen in den Deutschen Bundestag einzogen.
In der Folge des Nationalsozialismus wurden die zu Beginn des Jahrhunderts mühsam erkämpften Rechte der Frauen zu Grabe getragen. Es ist die Reinstallation des Frauenbilds aus dem 18. Jahrhundert. Frauen wird keinerlei politisch-gesellschaftliche Tätigkeit zugestanden. Die Mitgliedschaft in Parteien ist ihnen verboten – das gilt ausdrücklich auch für Leitungsfunktionen in der NSDAP, die Aufgabe der Frau soll in Mutterschaft und Familie bestehen. Wir kennen die Bilder der Nachkriegszeit, als es die sogenannten Trümmerfrauen waren, die das ganze Land buchstäblich mit bloßen Händen wiederaufbauten.
Nach 1945 zeigen sich zwei gänzlich verschiedene Entwicklungen in der BRD und in der DDR. In beiden Staaten wird den Frauen selbstverständlich per Verfassung neben dem Wahlrecht die volle Gleichberechtigung garantiert. Doch nur in einem Fall entspricht dies der gesellschaftlichen Wirklichkeit – nämlich in der DDR. Dort sind Männer und Frauen vollkommen gleichgestellt. In der BRD herrschen dagegen Geschlechterverhältnisse, die man als skandalös bezeichnen könnte.
Bis 1958 gilt im Familienrecht der sogenannte ‹Gehorsamsparagraf›. Frauen unterstehen komplett der Herrschaft ihrer Ehemänner. 90 Prozent der Frauen sind verheiratet, davon arbeiten wiederum 80 Prozent als reine Haus- und Ehefrauen. Der Mann hat das gesetzlich festgeschriebene Bestimmungsrecht über Frau und Kinder; will die Frau arbeiten, braucht sie seine Erlaubnis. Aber auch dann ist sie nicht finanziell unabhängig und damit imstande, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, denn der Lohn ihrer Arbeit wird vom Ehemann verwaltet, und bis 1962 ist es Frauen verboten, ohne Zustimmung des Mannes ein eigenes Bankkonto zu eröffnen. Man sieht also, Stimmrecht ist nicht gleichbedeutend mit Selbstbestimmung. Diese Zustände dauern tatsächlich bis 1977 an. Erst dann wird im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) der entsprechende Paragraf komplett abgeschafft, der bis dahin in abgewandelter Form galt: Der Ehemann konnte seiner Frau noch immer eine berufliche Tätigkeit untersagen, wenn er das Gefühl hatte, dass diese mit ihren Pflichten als Haus- und Ehefrau unvereinbar wäre.
Aktuell beträgt der Frauenanteil im Deutschen Bundestag rund 30 Prozent, also nur ein Drittel. Trotzdem ist dies bekanntlich weit höher als der Frauenanteil in den Führungsetagen sonstiger gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Bereiche. Nach wie vor ist die Hälfte der Bevölkerung in diesem fortschrittlichen westlichen Land nicht nur unterrepräsentiert, wird nicht nur ungleich behandelt, wie das Lohngefälle zeigt, da Frauen noch immer rund 20 Prozent weniger Einkommen für die gleiche Arbeit erhalten, sondern diese Hälfte ist auch von relevanten Gestaltungsstrukturen ausgesperrt. Bis zur Kunst! Auch die Theater sind vorwiegend fest in männlicher Hand, ebenso die Museen.
Für die Frauen hingegen ist bis heute die Doppelbelastung selbstverständlich: Neben ihrer beruflichen Tätigkeit sollen sie sich verstärkt um Haushalt und Familienleben kümmern, weshalb sie häufig einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen. Das macht sich wiederum im Rentenalter als weibliche Armutsgefährdung bemerkbar und ist in Europa, wie die Statistiken immer wieder aufs Neue zeigen, eine spezifisch deutsche Problematik. Wie kommt das? Was stimmt nicht mit unserem gesellschaftlich-kulturellen Leben, mit unserem Frauen- und Männerbild? Das ist eine Frage, die nicht weniger drängend zur Bearbeitung ansteht als vor hundert Jahren!
Einführung des Frauenwahlrechtes
Neuseeland: 1893
Finnland: 1906
Russland: 1917
Deutschland: 1918
Großbritannien: 1918
USA: 1920
Brasilien: 1932
Frankreich: 1942
Japan: 1945
Indien: 1950
Schweiz: 1971
Kuwait 2005
Saudi-Arabien: 2015
Quelle DW, Wahlrecht z.T. mit Einschränkungen
Foto: Bundesarchiv, Reichstagswahl, Wahllokal Braunschweig